Das Jahr ohne Sommer
Volker Heller
Volker Heller studierte Musik, Politologie und Kulturmanagement. Er arbeitete als Musiker und Komponist sowie in einer auf den öffentlichen Sektor spezialisierten Unternehmensberatung. Nach beruflichen Stationen als städtischer Kulturreferent in Frankfurt (Oder) und als Geschäftsführer der Kulturmanagement Bremen GmbH übernahm er 2005 die Leitung der Kulturabteilung des Berliner Senats. Im Sommer 2012 wechselte er als Vorstand zur Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin, die 2019 als deutsche „Bibliothek des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Er ist Bundesvorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbands.
Wie hätte ein badischer Gutshofbesitzer im Jahr 1815 seine Pläne für die zukünftigen Jahre beschrieben? Welche Ernteerträge hätte er geplant, welche Entwicklung seiner Viehbestände und welchen Ausbau der Stallungen? Das Jahr 1816 brachte dann ganzjährig ungewöhnlich kaltes Wetter mit schweren Unwettern, Überschwemmungen und erheblichen Ernteausfällen, Verlusten im Viehbestand sowie große Hungersnöte. Es wurde später in der Geschichtsschreibung als „Jahr ohne Sommer“ bezeichnet. Ursache war der Ausbruch des Vulkans Tambora auf der südlichen Erdhalbkugel im Jahr zuvor.
Mein (angeblich jüdischer) Lieblingswitz geht so: Wie bringe ich den lieben Gott zum Lachen? Indem ich ihm meine Zukunftspläne erzähle.
Neben dem operativen Tagesgeschäft gelten die Antizipation und Gestaltung der zukünftigen Betriebsentwicklung als die wesentlichen Aufgaben von Management. Zukunft zu formen als analytische und gestalterische Aufgabe ist der Kern strategischen Managements. Wie also könnten Betriebsleitungen und Unternehmensberatungen mit den unvorhersehbaren Aspekten der Zukunft umgehen, ohne entweder in Fatalismus oder in grandiose Ignoranz gegenüber dem Unvorhersehbaren zu verfallen?
Der Reformator Martin Luther setzt dem Fatalismus mit seinem Plan, angesichts eines prognostizierten Weltuntergangs ein Apfelbäumchen zu pflanzen, ein deutliches „Trotzdem“ entgegen. Denn in der Unberechenbarkeit der Zukunft kann sich natürlich auch der Weltuntergang verschieben. Und vermutlich hätte Luther – und wenn nicht er, so doch seine in diesen Dingen überaus gebildete Gattin und Gutshofchefin Katharina von Bora – die Apfelsorte und den Standort für die Pflanzung anhand der Bodenqualität, der Bewässerungsmöglichkeiten etc. sehr bewusst entschieden. Wer weiß, vielleicht hätten sie dann auch gleich einen kleinen Apfelhain mit 25 oder mehr Bäumchen begründet oder sich angesichts lokaler Wettbewerbsbedingungen eher für Birnbäume entschieden?
Der grandiose Ignorant tut so, als sei Zukunft nur die logische Folge quasi mathematischer Berechnungen und Prognosen, und simuliert unbedingte Beherrschbarkeit. In seinen Augen ist unternehmerischer Erfolg ausschließlich eine Frage eines intellektuell brillanten Plans. Der große Managementforscher Henry Mintzberg hätte sich über solche Ansichten köstlich amüsiert. In seinen Forschungen entlarvt er die Mythen von stringent durchgeführten, strategischen Masterplänen als angeblich direkten Weg zum betrieblichen Erfolg. Nach Mintzberg ist vielmehr die permanente Anpassungsbereitschaft und Korrekturfähigkeit in der strategischen Steuerung der Schlüssel zum Erfolg. Erfolgreiche Strategien, sagt er, werden nicht geplant und dann vollzogen, sondern sie entwickeln sich als Emerging Strategies rund um die Ereignisse (und Einschläge) der Zukunft herum.
Will man dieser Theorie folgen, dann ist Strategie im Sinne der Zukunftsgestaltung ganz wesentlich auch die Aufgabe, permanente Steuerungsfähigkeit zu sichern. Dann geht es um die Etablierung einer betrieblichen Kultur der Flexibilität, der Fehlerkultur, der Experimentierfreude, der Wachsamkeit und Aufmerksamkeit für Risiken und Chancen, der Ressourcenschonung, der Openness in Mindset und Technologie. Bei dieser Methode wählt die Strategie nicht den einen Gipfel aus, der zwanghaft erklommen werden soll, sondern bildet die Belegschaft lieber als ein Volk von Bergsteiger*innen, ausgestattet mit einem sicheren Wertekompass, heran.
Das „Jahr ohne Sommer“ hat übrigens in den Folgejahren eine Reihe sozialer und handelsökonomischer Innovationen ausgelöst, mit denen die Gesellschaften in den betroffenen Gebieten den Herausforderungen der Zukunft mit mehr Resilienz begegnen konnten.
Volker Heller studierte Musik, Politologie und Kulturmanagement. Er arbeitete als Musiker und Komponist sowie in einer auf den öffentlichen Sektor spezialisierten Unternehmensberatung. Nach beruflichen Stationen als städtischer Kulturreferent in Frankfurt (Oder) und als Geschäftsführer der Kulturmanagement Bremen GmbH übernahm er 2005 die Leitung der Kulturabteilung des Berliner Senats. Im Sommer 2012 wechselte er als Vorstand zur Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin, die 2019 als deutsche „Bibliothek des Jahres“ ausgezeichnet wurde. Er ist Bundesvorsitzender des Deutschen Bibliotheksverbands.