Die Zukunft des Kultursektors – Einblicke aus einer Nation im Aufbruch
Matthias Gutheil
Matthias Gutheil ist gegenwärtig Chief of Staff & Strategy Manager des Kultur- und Entertainmentsektors in NEOM. Zuvor arbeitete er für die Kultur- und Kreativsektorberatungen Metrum und BOP Consulting mit privaten und öffentlichen Institutionen in Europa, Asien, dem Nahen Osten und Amerika. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sind Innovationsprojekte an der Schnittstelle zwischen Städteplanung und dem Kultursektor.
Wird die Zukunft des Kultursektors gerade im Nahen Osten definiert? Das klingt sicherlich im ersten Augenblick weit hergeholt, wird die Region doch seit Jahren durch Krisen und Konflikte geprägt. Doch in Saudi-Arabien, das mit 32 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land auf der Arabischen Halbinsel und mit einer Fläche von 2,1 Millionen Quadratkilometern sechsmal so groß wie Deutschland ist, regt sich schon seit einigen Jahren etwas. Um die Entwicklungen in Bezug auf den Kultursektor zu verstehen, muss man zum einen wissen, dass Saudi-Arabien eine für europäische Verhältnisse außerordentlich junge Bevölkerung hat. So sind 25 Prozent unter 15 Jahre und ganze 55 Prozent unter 35 Jahre alt. Der zweite zentrale Aspekt ist die 2016 verkündete „Vision 2030“, die neben der Diversifizierung der vom Öl abhängigen Wirtschaft auch eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität und Modernisierung der öffentlichen Verwaltung zum Ziel hat.
Diese beiden Faktoren sind Katalysatoren einer Phase beispielloser ökonomischer und gesellschaftlicher Entwicklung, deren schon heute weitreichende Impulse von außen betrachtet kaum greifbar sind. Die soziale und rechtliche Landschaft verändert sich rasant – auch im Kultur- und Kreativsektor. Das Land hat diesen zu einem Prioritätssektor erklärt, der zum sozialen Wandel und zur Diversifizierung der Wirtschaft beitragen soll. Dies ist an sich schon eine kleine Sensation vor dem Hintergrund, dass Kinos und Konzerte bis Mitte der 2010er-Jahre verboten waren. Dass sich gerade viele junge Menschen nach einem breiteren Kultur- und Entertainmentangebot sehnen, zeigen in den letzten Jahren eingeführte Veranstaltungsformate wie das Musikfestival MDLBEAST in der Hauptstadt Riad, das im vergangenen Jahr von über 700 000 Menschen besucht wurde, oder auch die Biennale in Dschidda, die mehr als 600 000 Besucher zählte.
Aus etablierten kulturellen Ökosystemen weiß man, dass der nachhaltige Aufbau und Erhalt eines Kultur- und Kreativsektors langwierig und hochkomplex ist und neben einer soliden kulturellen Infrastruktur wie Theatern, Museen und flexiblen Bildungs-, Kreativ- und Veranstaltungsorten vor allem von weichen Faktoren abhängt. Hierzu zählen neben bezahlbarem Wohn- und Arbeitsraum etwa ein breites kulturelles Bildungsangebot, eine vielfältige kulturelle Institutionslandschaft oder auch Förderprogramme und vereinfachte Visa-Prozesse für kreative Freelancer.
Was passiert, wenn diese Faktoren nicht ausreichend einbezogen werden, war zum Beispiel in China zu beobachten, wo um die Jahrtausendwende ähnlich ehrgeizige Pläne für den Sektor vorgelegt wurden. Die öffentlichen Maßnahmen konzentrierten sich jedoch vornehmlich auf den Bau neuer Theater und Museen und boten kaum Anreize für den Aufbau eines nachhaltigen kulturellen
Ökosystems.
Die agierenden saudischen Akteure hingegen scheinen von Anfang an anzuerkennen, dass eine gesamtheitliche Herangehensweise notwendig ist. Hierfür spricht zum Beispiel, dass es einer der ersten Schritte im Jahr 2018 war, neben der Schaffung eines Kulturministeriums elf mit einem starken Mandat ausgestattete Kulturkommissionen einzusetzen. Sie betreuen je einen der elf kulturellen bzw. kreativen Subsektoren, mit der Aufgabe, den Aufbau des jeweiligen Ökosystems zu fördern und zu begleiten. Dies geschieht durch Interventionen entlang der gesamten Wertschöpfungskette: von der Einführung von Kunst- und Musikunterricht in Schulen über die vereinfachte Anmeldung von künstlerischen und kreativen Gewerben bis hin zu Förderprogrammen, die für den jeweiligen Subsektor spezifisch sind. Aus europäischer Sicht mögen derartige Schritte offensichtlich erscheinen, aber in einem Land, in dem kulturelle und kreative Tätigkeiten aktuell von der Mehrheit nicht als Karriereoptionen wahrgenommen werden, wirken sich solche Maßnahmen nachhaltig auf den Aufbau eines florierenden Ökosystems aus.
Was hat dies nun mit der Zukunft des Sektors zu tun und warum sollte man diese Entwicklungen aus deutscher und europäischer Sicht verfolgen oder sich gar beteiligen?
Neben den oben genannten grundlegenden Initiativen gehört zur Vision für den Sektor auch, Konventionen zu hinterfragen und ein innovatives und flexibles Ökosystem aufzubauen, das darauf ausgelegt, ist sowohl die Bedürfnisse heutiger als auch die zukünftiger Generationen zu versorgen. Diese Aspirationen, in Kombination mit einer extrem jungen, internationalisierten und kulturhungrigen Bevölkerung, deren Nachfrage nach einem vielfältigen und hochwertigen Kulturangebot aktuell kaum etwas gegenübersteht, bieten einen einmaligen Nährboden, um neue strukturelle und konzeptionelle Herangehensweisen für den Kultursektor zu testen.
Aus europäischer Perspektive, wo in vielen Ländern der Kultur- und Kreativsektor über Jahrzehnte herangewachsen und eine einmalige Vielfalt entstanden ist, bietet sich in diesem Kontext die Möglichkeit eines Austauschs, der sich auf die reiche Kulturgeschichte und den Einfluss Europas auf die zeitgenössische Kultur stützt. Darüber hinaus können die vor Ort entwickelten neuartigen Lösungsansätze helfen, eigene Herangehensweisen und Strukturen zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Zu den Zukunfts- und Innovationsthemen, mit denen sich die saudischen Kulturakteure im Rahmen des Aufbaus des Sektors aktuell aktiv beschäftigen und die Relevanz auch für etablierte Ökosysteme haben, gehören:
Aus politischer und institutioneller Perspektive:
- Was sind neue Herangehensweisen bei der Planung und Implementierung öffentlicher Kulturstrategien und Förderprogramme und wie kann deren Effektivität und Wirkung besser gemessen und veranschaulicht werden?
- Werden die Grenzen zwischen Kultur und Entertainment im Kontext veränderter Konsumverhalten weiter verschwimmen und inwiefern verändert dies die Rolle des Kultursektors und seiner Institutionen?
Aus der Perspektive individueller Institutionen:
- Wie integriert man sektorspezifische Megatrends wie die Verflechtung verschiedener Kunstformen von Beginn an in die institutionelle DNA neu geschaffener Kulturinstitutionen und deren Programmformate) Was sind neue Geschäftsmodelle, die sich daraus ergeben?
- Mit welchen Leitsätzen, Strategien und Mechanismen muss man neue Kulturinstitutionen ausstatten, um programmatisch agil zu sein, ohne von der institutionellen Mission abzukommen? – das alles im Kontext einer sich rasant wandelnden Gesellschaft, deren zukünftigen Bedürfnisse und Vorlieben kaum vorhersehbar sind.
In Bezug auf den Arbeitsmarkt und kreative Bildungspfade:
- Inwiefern wirken sich neuartige Institutionen und Formate auf die benötigten Fähigkeiten und Qualifikationen der Kultur- und Kreativschaffenden aus und welche neuartigen Kompetenz-Cluster formen sich dadurch?
- Formen sich die in vielen Ländern für den Sektor so wichtigen und international umschwärmten kreativen Freelancer-Gemeinden oder bilden sich neuartige Wertschöpfungsketten? Welche Faktoren beeinflussen diese Entwicklung?
Es ist noch zu früh, um sagen zu können, ob sich die Vision Saudi-Arabiens für den Kultur- und Kreativsektor erfüllen wird. Inwieweit es gelingt, die gesellschaftliche Wahrnehmung von Karrieren im Kultur- und Kreativsektor zu ändern und sich mittelfristig von ausländischer Expertise und IP unabhängiger zu machen, wird hierbei eine zentrale Rolle spielen. Auch wird die Bereitschaft, den Sektor langfristig zu unterstützen, entscheidend sein, da es noch Jahre dauern wird, bis dieser seine volle Wirksamkeit als Innovations- und Impulsgeber für Gesellschaft und Wirtschaft entfalten wird. Dennoch hat die Energie der vielen jungen saudi-arabischen Kultur- und Kreativschaffenden, die heute schon in diesem Sektor tätig sind, das Potenzial, den Wandel im Land weiter voranzutreiben und über die Grenzen des Landes hinweg positive Impulse für die Zukunft des Kultur- und Kreativsektors zu geben.
Matthias Gutheil ist gegenwärtig Chief of Staff & Strategy Manager des Kultur- und Entertainmentsektors in NEOM. Zuvor arbeitete er für die Kultur- und Kreativsektorberatungen Metrum und BOP Consulting mit privaten und öffentlichen Institutionen in Europa, Asien, dem Nahen Osten und Amerika. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit sind Innovationsprojekte an der Schnittstelle zwischen Städteplanung und dem Kultursektor.