Der bekannteste Unbekannte
Timo Glatz
Timo Glatz studierte Politikwissenschaften an den Universitäten Bonn und Tel Aviv. Viele Jahre war er Kommunikationsmanager im Bereich der erneuerbaren Energien. Als Marketingleiter des Vereins DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland arbeitet er am strategischen Aufbau des bundesweiten Migrationsmuseums von DOMiD, dem Museum Selma, das 2029 in Köln eröffnen soll.
Bahnhof Köln-Deutz, Gleis 11. Wir schreiben das Jahr 1964. Für einen 38-jährigen Zimmermann aus einem kleinen Dorf im Norden Portugals beginnt eine ungewisse Zukunft mit einem unerwarteten Blitzlichtgewitter. Er soll in die Geschichte eingehen als der einmillionste „Gastarbeiter“. Eine PR-Aktion der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) sollte dafür sorgen, dass mehr Arbeitsmigrant*innen aus Portugal in die junge Bundesrepublik kommen. Blind wurde an dem Tag auf die Passagierliste des aus Portugal kommenden Zuges getippt und eine Person ausgewählt. Ein Glücklicher? Ansichtssache. Armando Rodrigues de Sá selbst erlebt dies mit gemischten Gefühlen. Nach mehr als zwei Tagen Fahrt ist er nicht darauf gefasst, bei seiner Ankunft mit Pauken und Trompeten, deutschen Märschen und – ausgerechnet! – dem Carmen-Hit „Auf in den Kampf, Torero“ begrüßt zu werden. Skurril: Während sich die meisten Deutschen im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs mittlerweile ein eigenes Auto leisten konnten, gereichte dem BDA ein Blumenstrauß und ein Moped (das Zündapp-Mokick Sport Combinette) als Zeichen der Wertschätzung für die „Gastarbeiter“; genau genommen für einen von ihnen. De Sá wird es nie fahren, da er keinen Führerschein besitzt. Die Zahl der Arbeitsmigranten aus Portugal wird sich ebenso nicht erhöhen. Der Unterschied zwischen politischer Intention und erzieltem Effekt klaffte einmal mehr auseinander. Erst nach innenpolitischen Änderungen 1968 stieg die Zahl vermittelter Arbeitskräfte aus Portugal an – bis zum Stopp aller Anwerbeabkommen, der 1973 erfolgte.
Eine Erfolgsgeschichte?
Das Foto von de Sá ging um die Welt und entwickelte sich in seiner tausendfachen Reproduktion zu einer Ikone der „Gastarbeit“ der Bundesrepublik. Die harte Arbeit in den Fabriken der Millionen männlichen und – meist vergessen – auch zu fast einem Drittel weiblichen Arbeitsmigrant*innen bleibt unsichtbar. Eine ganze Generation deutscher Arbeiter steigt auf, da nun andere die dreckige Arbeit verrichten. Eine Erfolgsgeschichte? Ansichtssache. Wie ging es mit de Sá weiter? Er wird erinnert in dem Sonntagsanzug mit Hut, wie er am Kölner Bahnhof steht, und dort endet die Geschichte meist. Der Mensch bleibt unsichtbar. Es dauerte mehr als 25 Jahre, nämlich genau 40 Jahre, bis sich jemand für die weitere Biografie interessierte. 2004 machten sich Forschende des Dokumentationszentrums und Museums über die Migration in Deutschland (DOMiD) und von Partnerorganisationen auf den Weg nach Portugal, führten intensive Gespräche mit der Familie und werteten diese Interviews aus. Dadurch wurde der Mensch de Sá in den Mittelpunkt gestellt. Zum 50. Jahrestag 2014 fand in Köln ein großer Festakt statt, zu dem Familienangehörige eingeladen waren. Ein damals aufgestelltes Denkmal wurde dieses Jahr mit Unterstützung von DOMiD erneuert. Was wir herausfanden, war leider kein Happy End.
Der Mensch hinter der Ikone
Über Stuttgart ging de Sá nach Blaubeuren, wo er in einer Zementfabrik arbeitete. Er lebte sparsam und sandte den Großteil seines Einkommens an seine Familie in Portugal. Die Arbeitsbedingungen waren hart, und er litt unter Schmerzen im Magen, die ihn 1970 dazu zwangen, nach Portugal zurückzugehen. Sein Arzt in Portugal sagte zu ihm: „Entweder du bleibst hier oder deine Knochen bleiben für immer in Deutschland.“ Nach seiner Rückkehr ließ er sich intensiv untersuchen. Doch erst als sich in den folgenden Jahren die Schmerzen verschlimmerten, wurde bei ihm Krebs diagnostiziert. Daran verstarb er 1979. Die Familie sagt, dass de Sá nicht ausreichend über seinen Schutz in der deutschen Krankenversicherung informiert wurde, weshalb er viele Kosten der Behandlung selbst tragen musste.
Geschichte geht voran
Auch nach dem Anwerbestopp kamen weiterhin Arbeitsmigrant*innen, und noch heute kommen Menschen nach Deutschland, da es in bestimmten Sektoren Fachkräftemangel gibt und Deutschland als ein noch relativ attraktiver Standort gilt. Ob Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan oder der Ukraine: Auch erzwungene Migration bringt Menschen nach Deutschland, die hier einen Neuanfang suchen oder nur ein sicheres Obdach für einige Zeit. Menschen mit Stipendien oder anderen Bildungsmotiven lassen sich hier nieder. Andere verlieben sich und suchen eine gemeinsame Zukunft in diesem Land. Die Motive der Migration sind zahlreich und unglaublich unterschiedlich. In der derzeit medial und politisch aufgeheizten Debatte muss die Migration häufig als Folie eines Diskurses herhalten, der sich oftmals um Fragen des Zusammenlebens und der demokratischen Teilhabe dreht. Abstiegsängste, unsichere Identitäten sowie ein kontinuierlicher politischer Krisenmodus lassen Eingewanderte als Projektionsfläche erscheinen. Die Beweggründe, die Gefühle und Ressourcen der Menschen, die in Deutschland ihren neuen Lebensmittelpunkt sehen, geraten erneut in den Hintergrund.
Ein Museum für alle
Wir bauen deswegen ein Museum für uns alle. Ein Haus, in dem die Geschichten der Ein- und Auswanderung, die längst Normalität geworden ist, ein Zuhause haben. Geschichten, die auch einen positiveren Verlauf genommen haben als die des „Millionsten“. Geschichten des Neuanfangs. Wir erzählen diese Lebenswege und schaffen so einen Ort, an dem wir uns als Migrationsgesellschaft neu erfahren können. An dem wir darüber streiten können, wie wir zusammenleben wollen. An dem wir dem Diskurs einen demokratischen Ort zur Aushandlung geben, um voneinander zu lernen. Wir erzählen Geschichten wie die von dem Zimmermann aus dem Norden Portugals. Geschichten, die unsere Geschichte veränderten. Sie müssen erzählt werden. Von vielen Stimmen. Für eine gute Zukunft
Timo Glatz studierte Politikwissenschaften an den Universitäten Bonn und Tel Aviv. Viele Jahre war er Kommunikationsmanager im Bereich der erneuerbaren Energien. Als Marketingleiter des Vereins DOMiD – Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland arbeitet er am strategischen Aufbau des bundesweiten Migrationsmuseums von DOMiD, dem Museum Selma, das 2029 in Köln eröffnen soll.