Kunst – Resonanzboden der Gesellschaft?

Reinhard Flender

Reinhard Flender ist Direktor des Instituts für kulturelle Innovationsforschung an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, das er 1999 gegründet hat. Er lehrte von 1983 bis 2022 Musikwissenschaft an der Hamburger Musikhochschule und leitete außerdem von 2016 bis 2019 das Institut für Kultur- und Medienmanagement. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Neue Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.

Was geht in einer Künstlerin oder einem Künstler vor, wenn sie bei der Arbeit sind? Die allgemeine Auffassung lautet, dass Kunstschaffende kreativ sind. Das ist zweifellos richtig, doch Kreativität ist kein Alleinstellungsmerkmal für die Künste. Auch Wissenschaftler, Köche, Politiker, Juristen, Programmierer oder Unternehmer sind kreativ, um in ihrem Beruf erfolgreich zu sein. Was also zeichnet die künstlerische Tätigkeit noch aus? Meine These lautet: eine besondere Begabung für Resonanz. Dabei beziehe ich mich nicht auf das akustische Phänomen, sondern auf die Metapher, die der Soziologe Hartmut Rosa in seinem Buch „Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung“¹ entwickelt hat. Rosa beschreibt Resonanz als den Grundmodus, in dem wir uns zur Welt verhalten. Das akustische Phänomen, bei dem zwei Klangkörper durch gemeinsame Frequenzen in Verbindung treten, überträgt er auf das Verhältnis von Menschen zu ihrer Umwelt. Seine Definition lautet: „Resonanz (…) ist die primäre Form unserer Weltbeziehung“ (S. 747). Daraus leitet er ab, dass das Handeln von Gruppen, Gesellschaften und Individuen von einem spezifischen Beziehungsmodus geprägt wird, der entweder Resonanz ermöglicht oder verhindert. 

Mithilfe von Rosas Theorie können wir die Interaktion zwischen Kunst und Gesellschaft analysieren. Resonanz beschreibt Rosa als ein Wechselspiel von Berühren und Berührtwerden, das bis in die neuronalen Grundlagen des Menschen reicht und uns auf eine Weise erfasst, die sowohl kognitiv als auch affektiv und leiblich spürbar ist (S. 279). Besonders in der Kunst findet dieser Austausch in intensivierter Form statt: „Kunstgeschehen (ist) nichts anderes als Resonanzgeschehen“ (S. 478). Zu Beginn des künstlerischen Schaffens steht also das Resonanzerlebnis. Es kann rein ästhetischer Natur sein, etwa in der Auseinandersetzung mit der Natur, einer Farbe, einem Klang oder einer Form. Ebenso kann es ein biografisches Schlüsselerlebnis sein, das ästhetisch verarbeitet wird. Das Erlebnis kann introvertiert und verinnerlicht sein, also ein Dialog mit den eigenen seelischen Zuständen, oder gar auf transzendentalen Erfahrungen beruhen; Rosa nennt dies „vertikale Resonanzachsen“. 

Das künstlerische Resonanzerlebnis ist zunächst ein zutiefst subjektiver Akt. Doch auf das Erleben folgt der kreative Prozess, der die Künstlerin oder den Künstler dazu stimuliert, das ästhetische Material in eine unverwechselbare Form zu bringen. Manchmal geschieht dies durch jahrelange Auseinandersetzung mit dem eigenen Werk oder es entsteht spontan wie aus einem Guss. 

Doch Kunst ist nicht nur ein innerer Dialog. Sobald ein Kunstwerk vollendet ist, verlässt es den inneren Resonanzraum des Urhebers und tritt in eine Phase ein, in der es sich dem Urteil und der Rezeption des Publikums stellt. Kunst braucht die Gesellschaft, um ihre öffentlichen Resonanzräume zu finden und ihre Wirkung zu entfalten. Ob die Resonanz, die das Werk erfährt, von kurzer Dauer ist oder länger anhält, ist schwer vorhersehbar. Kunsthändler, Musikverleger oder Filmproduzenten tragen ein erhebliches wirtschaftliches Risiko, wenn sie in Kunst investieren. In extremen Fällen tritt die Rezeption sogar erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung ein. Ein prominentes Beispiel dafür ist Vincent van Gogh, der zu Lebzeiten kaum ein Bild verkaufte, heute jedoch eine Ikone der Kunstwelt ist.

Wenn wir die Resonanz eines Kunstwerks nach seiner Vollendung betrachten, dann sehen wir, dass es einem selektiven Prozess unterworfen ist. Nur wenige Werke überdauern die Zeit und finden nachhaltige Resonanz. Namen wie Shakespeare, da Vinci, Beethoven oder Goethe sind nicht nur zu Lebzeiten berühmt geworden, sondern haben bis heute einen festen Platz in der kulturellen Welt. Auch hier geht es um Resonanz: Was bringt Menschen dazu, diese Werke aus vergangenen Zeiten immer wieder zu hören, zu sehen oder zu lesen?

Kunstwerke, die über Generationen hinweg Resonanz erzeugen, greifen auf universelle menschliche Erfahrungen zurück. Sie schaffen es, das ursprüngliche Resonanzerlebnis des Künstlers in einer Form auszudrücken, die für den Betrachter oder Zuhörer über Jahrhunderte nachvollziehbar und wiederholbar ist. Das ist der Grund, warum bestimmte Werke zeitlos sind. Traditionelle Kunsttheorie begründet dieses Phänomen mit dem Prädikat „Meisterwerk“. Aber bereits Kant wusste: Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Ästhetische Ideale sind Geschmacksideale, die sich im Laufe der Zeit ändern. Das zugrunde liegende Resonanzerlebnis bleibt aber universell.

Seit der Romantik haben die Künstler typische Entfremdungserfahrungen wie den Liebeskummer oder den Weltschmerz thematisiert, um diesen leidvollen oder negativen Erfahrungen einen Resonanzraum zu verschaffen. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus“ aus Schuberts „Winterreise“ ist hierfür ein eindrückliches Beispiel. Seit der Moderne, die auch das Hässliche und das Dissonante in die Kunst aufgenommen hat, ist klar, dass diese Entfremdungserfahrungen eine wertvolle Erweiterung des existenziellen Resonanzspektrums sind. Komponisten der Neuen Musik haben diesen Ansatz radikalisiert und sind das Risiko eingegangen, Publikumsresonanz zu verlieren. Nicht jede Kunst berührt alle Menschen gleichermaßen. Wenn ein Kunstwerk nicht berührt, wird es ignoriert, nicht wieder betrachtet oder gehört. Aber auch Resonanzräume, die von einer Minderheit der Gesellschaft geteilt werden, sind wertvoll. Aktuell erfolgreiche Kunstwerke treffen den „Puls der Zeit“. Sie schaffen es, ein kollektives Resonanzerlebnis in eine ästhetische Form zu übersetzen, die von vielen Menschen geteilt wird. Das ist insbesondere in den medialisierten Kunstformen wie dem kommerziellen Film oder der Popularmusik der Fall. Diese Verbindung zwischen Kunstwerk und Gesellschaft ist dann zeitgebunden. Wenn der Zeitgeist sich ändert, verliert die davon abhängige Resonanzachse an Relevanz. 

Das Kunstschaffen in allen Formen, den populären wie den experimentellen und schwer rezipierbaren, ist für eine offene Gesellschaft unverzichtbar. Die von Rosa analysierte zentrale Bedeutung des Resonanzerlebnisses für ein gelingendes Leben und ein gelungenes Gemeinwesen weist der Kunstproduktion in allen ihren Facetten eine zentrale Bedeutung zu. Die Kunstfreiheit und die unbegrenzte mediale Verfügbarkeit von Kunst haben den Resonanzraum und die Resonanzachsen der künstlerischen Ausdrucksformen vervielfacht. Sie setzen gemeinsam einen virtuellen Resonanzboden in Schwingung, der ein komplexes Resonanzspektrum erzeugt. Dieser frei schwingende Resonanzboden kann nur dann sein optimales Schwingungspotenzial erreichen, wenn die Kunst frei ist, so wie es das Grundgesetz Art. 5 Abs. 3 vorsieht.


1    Hartmut Rosa, Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin 2016.

Reinhard Flender ist Direktor des Instituts für kulturelle Innovationsforschung an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, das er 1999 gegründet hat. Er lehrte von 1983 bis 2022 Musikwissenschaft an der Hamburger Musikhochschule und leitete außerdem von 2016 bis 2019 das Institut für Kultur- und Medienmanagement. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Neue Musik des 20. und 21. Jahrhunderts.