Ende Mai, fast schon Juni

Katharina Hinsberg

Katharina Hinsberg ist bildende Künstlerin. Sie lebt und arbeitet auf der Raketenstation Hombroich in Neuss und ist Professorin für Konzeptuelle Malerei an der Hochschule der Bildenden Künste Saar. Ihre letzten Einzelausstellungen: Kunsthalle Mannheim, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Um Museum (Hwaseong-si, Südkorea), Kunsthalle Göppingen, Saarlandmuseum, Kunsthaus Baselland, Kunstsammlung NRW, Kunstmuseum Stuttgart, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.

Endlich scheint die Sonne, die Hähne krähen vor der offenen Tür zum Garten, und jemand schnitzt, mir gegenüber am Tisch, ein kleines Haus aus Wachs, das ‚innen‘ und ‚außen‘ symbolisieren soll. Ich versuche unterdessen, diesen Text zu schreiben.

Die Tätigkeiten überschneiden sich, die Aufmerksamkeit ist immer geteilt: Es gibt den nahen Blick auf den Aktionsraum des Tisches: auf meine Hände und auf das, was ich gerade mache, wie ich meinen Stift (Messer, Pinsel, Löffel …) halte, wie sich die Oberflächen anfühlen, das Papier oder der Griff des Schneidemessers, wie ich Schnitte mit Drehungen der Hand durchs Papier führe und wie beide Hände dabei zusammenspielen. Ich höre die Geräusche im Haus und den Verkehr von der Straße draußen. Ich wende den Kopf, schaue aus dem Fenster, schweife ab, gehe in den Garten.

Die Tätigkeiten wechseln, verflechten sich, sie greifen ineinander, die Aufmerksamkeiten ändern sich, wenig oder mehr, je nachdem, wohin mein Blick geht. Es ist Mai, fast schon Juni. Draußen stehen große Buchen, Volumen von Abertausend kleinen beweglichen Fächern, die sich gerade erst erneuert haben. Wenn das Licht abends tiefer steht, leuchten und atmen jetzt die Bäume, sie plustern sich und nehmen die Vögel, die Wärme und Stille des Abends in sich auf. Wir sitzen den ersten Abend wieder draußen, bis es dunkel wird.

Dabei könnte ich abends eigentlich gut arbeiten, wenn der Blick in der Schwärze vor den Fenstern nichts mehr findet oder sucht, was mich ablenken kann. Das Haus ist leise, und die Wahrnehmungen lassen sich wieder leichter zusammenziehen. Zeichnungen warten auf einem Tisch, die ich ausschneiden müsste. Das Ausschneiden ist ein sorgfältiges Sezieren, ein langsamer, wesenhaft anderer Vorgang als das Zeichnen. Die Linien entstehen nicht mehr als freie, bestimmbare, gestaltbare Bildelemente, sie werden aus dem Blatt gelöst und sind jetzt eher Vorgaben, denen ich folge. 

In den Linien blieben Prozesse des Zeichnens gegenwärtig und lesbar: die Gesten, der Druck der Hände, der Härtegrad des Stiftes, die Geschwindigkeit, die Vehemenz oder das Zögern meiner Bewegungen. Das langsame Ausschneiden dieser Spuren entfernt diese Lesbarkeit, dauert seine Zeit und lässt sich nicht beschleunigen. Der Schneidevorgang gewinnt damit eine zunehmende Dominanz gegenüber dem raschen Zeichnen. Meine Rolle verändert sich: vom Zeichnen mit schnellen, oft vehementen Gesten zum geduldigen, sorgfältigen Ausschneiden, das sich, ganz nah am Blatt, dem kleinteiligen Herauslösen widmet und unterdessen die eigenen Spuren löscht. Die Zeichnung wird befragt, verändert, in Teilen getilgt, sie wird kostbar.

Die ausgeschnittenen Zeichnungen beschreiben noch die Flächen, aus denen sie hervorgingen, und sie teilen sich dem Raum mit, den sie teilen. Es entstehen Zwischenräume, Durchblicke, Löcher und Zusammenhänge. Diese Zeichnungen sind durchlässig, sie nehmen die Räume und Situationen in sich auf, welche sie temporär besetzen. Die Fläche einer Wand schaut durch das Netz der Zeichnung, das Licht legt die Schatten der Linien auf die Wand. Es entstehen Gespräche zwischen Bild und Wand, Fenstern, Türen … 

Dann bin ich wieder im Garten. Unter der Birke stehen weiße und violette Volumen von Blütenwolken im Gras, Nachtviolen vielleicht.

 

Katharina Hinsberg ist bildende Künstlerin. Sie lebt und arbeitet auf der Raketenstation Hombroich in Neuss und ist Professorin für Konzeptuelle Malerei an der Hochschule der Bildenden Künste Saar. Ihre letzten Einzelausstellungen: Kunsthalle Mannheim, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Um Museum (Hwaseong-si, Südkorea), Kunsthalle Göppingen, Saarlandmuseum, Kunsthaus Baselland, Kunstsammlung NRW, Kunstmuseum Stuttgart, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe.