Gegenwartskunst, Zukunftskunst und die Zukunft der Künste: Zum neuen Verhältnis von Kunst, Politik und Gesellschaft

Andreas Hoffmann

Andreas Hoffmann ist seit Mai 2023 Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, zu der neben der documenta das Fridericianum, das documenta archiv, die documenta Halle und das documenta Institut gehören. Zuvor war er u. a. Geschäftsführer des Bucerius Kunst Forums sowie der Freunde der Kunsthalle Hamburg. Er lehrt am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Hoffmann studierte Klassische Archäologie und absolvierte eine Ausbildung zum PR-Referenten.

Zeitenwende in der Gegenwartskunst

Die Gegenwartskunst erlebt eine Zeitenwende. Sie ist geprägt von zunehmender Internationalisierung, Globalisierung und der Erschließung immer neuer, nichtwestlicher Märkte. Da rückt auf der vom Künstler*innenkollektiv Ruangrupa kuratierten documenta fifteen im Sommer 2022 oder bei der von Adriano Pedrosa verantworteten aktuellen Biennale von Venedig 2024 der Globale Süden in den Fokus und wird zum Exempel für neue Perspektiven, auch wenn die Übertragung des Begriffs aus der Politikwissenschaft in die Kunst problematisch bleibt und er die Komplexität der ethisch-ästhetischen Wechselbeziehungen nur ungenügend beschreibt.

Gleichzeitig stößt die Globalisierung in den gegenwärtigen Krisen- und Kriegszeiten an ihre Grenzen. Mit der Denationalisierung geht, wie die Soziologin Saskia Sassen vielleicht zuerst gezeigt hat, ein Wiedererstarken von Nationalismen einher. Was das für die Gegenwartskunst bedeutet, muss man erst sehen.

Digitale Plattformen erleichtern den kulturellen Austausch und lassen künftig eine noch stärkere Globalisierung der Kunstwelt erwarten. Die Suche nach neuen Formen der internationalen Zusammenarbeit hat gerade erst begonnen.

Bei der Frage nach der Kunst der Zukunft und der Zukunft im Allgemeinen geht es auch um die Frage nach der Bedeutung von KI im Kontext der Zukunft von Kreativität.

Umweltbewusste künstlerische Techniken und Materialien spielen in der Kunstproduktion eine immer wichtigere Rolle, in den Kunstinstitutionen ebenso Nachhaltigkeitskonzepte und die Berücksichtigung von Materialkreisläufen.

Vor allem aber verändert die Kunst ihre Bestimmung. Kunst, die sich im politischen, gesellschaftlichen und sozialen Raum positioniert, hat an Bedeutung gewonnen, auch die künstlerische Auseinandersetzung mit politischen, gesellschaftlichen und sozialen Themen. Ethik, nicht mehr nur Ästhetik, ist der Schlüsselbegriff für die Kunstinstitutionen. Die lange nicht gestellte Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik ist zurückgekehrt in die Debatte (Hanno Rauterberg). Die angestammten Werte gelten nicht mehr. Die Kunst muss neu verhandeln, was sie will, was sie soll, was sie darf. Sie ist nicht länger nur eine Gegenwelt, sie ist zurück in der Welt.

Kunst in Zeiten multipler Krisen: Zukunftsnarrative zwischen Utopie und Dystopie

Die Welt ist im Umbruch und verändert sich gegenwärtig dramatisch. Die Welt ist in Aufruhr und hat die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert durcheinandergebracht. Das lässt auch die Kunst und die Künstler*innen nicht kalt. Die multiplen Krisen mit all ihrer Komplexität prägen die Gegenwart ebenso wie die Gegenwartskunst.

Militärische Konflikte und Kriege wie die in Nahost oder der Ukraine, Handelskonflikte, populistische Politisierung und die Krise der liberalen Demokratie, Klimakrise, Energiekrise, Inflation und Pandemien verstärken sich gegenseitig. Öffentliche Debatten eskalieren zum Streit. In der Breite der Gesellschaft regiert die Angst vor dem Schwinden des gesellschaftlichen Zusammenhalts und dem Ende von Respekt und Vernunft.

Die komplexen Zusammenhänge fordern bei der Bewältigung dieser Krisen alle Teile unserer Gesellschaft in neuer Weise heraus. Die Frage nach der Deutungsmacht der Zukunftsnarrative bestimmt die Diskurse und Diskussionen, die oszillieren zwischen Utopien und Dystopien, Sorge und Zuversicht.

Biennalen als Seismografen

Mit der Suche nach einer neuen Bestimmung gehen in der Gegenwartskunst neue Praktiken und Formate einher. Zu den erfolgreichsten zählen die Biennalen. Sie haben Konjunktur. Mehr als 3000 Biennalen gibt es weltweit. Und es werden immer mehr. Biennalen sind ein Format mit großer Dynamik. Allein im Zeitraum von 2015 und 2020 wurden mindestens 59 Biennalen neu gegründet, viele davon im sogenannten „Globalen Süden“. Sie sind wichtige Seismografen und Plattformen für den Dialog über zentrale Kunst- und Kulturdiskurse geworden, sehr oft auch mit globaler Reichweite.

Der weltweite Trend der Biennalisierung kann als Spiegel der tiefgreifenden Transformationsprozesse der Welt der Kunst angesehen werden, die durch die Globalisierung ausgelöst werden. Hier werden sie systematisch erfasst und gespiegelt.

Dabei spielt die Kontextgebundenheit der jeweiligen Biennalen eine große Rolle. Mit ihren spezifischen geopolitischen Rahmenbedingungen, Organisationsformen, Förderstrukturen und lokalen Akteur*innen sind die einzelnen Biennalen nicht nur Ausdruck der Globalisierung, sie tragen zugleich erheblich zur Dezentralisierung und Regionalisierung des Kunstbetriebs bei.

Ein neues Verhältnis zwischen Kunst, Politik und Gesellschaft

So hat sich ein neues Verhältnis zwischen Kunst, Politik und Gesellschaft entwickelt, das vom traditionellen westlich-europäischen Kunstverständnis der Aufklärung weit entfernt ist.

Nach der Idee der Aufklärung wird Kunst mit Zweckfreiheit verbunden. Immanuel Kant hat unter dem Diktum des „interesselosen Wohlgefallens“ jegliche pragmatischen Erwägungen ausgeschlossen. „Interesseloses Wohlgefallen“ ist der Schlüsselbegriff des modernen Autonomiediskurses über die Eigengesetzlichkeit der Kunst.

Kant hat mit dieser Idee eine lange Tradition begründet. Wie er sieht auch Friedrich Schiller in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ die Kunst als einen Ort, der frei ist von Zwecken, Moral und Naturgesetzen. Die Vorstellung der Kunst als einem autonomen Bereich wendet sich dezidiert gegen ihre politische Indienstnahme und soll deren Verzweckung verhindern. Der Kunst wird ein Platz in der Gesellschaft eingeräumt, in der sie außerhalb der Norm nach ihren eigenen Regeln arbeiten kann.

Heute glaubt man nicht mehr an den autonomen und genialen Künstler, der die westliche Kunstgeschichte seit der Renaissance geprägt hat. Der alte Genieglaube und die Vorstellung vom heroischen Schöpfer haben ausgedient. Kollektive Strukturen haben auch in der Kunstwelt eine neue Bedeutung erfahren.

Die Kunst der Avantgarden in den Zwanzigerjahren

Schon in der Vergangenheit war der Kunstbegriff keineswegs statisch, sondern er hat sich kontinuierlich verändert und immer wieder erweitert. Und auch das Verhältnis von Ästhetik und Ethik war immer wieder grundsätzlichen Neubestimmungen unterworfen.

Auch in den 1920er-Jahren standen Kunst, Politik und Gesellschaft in einer engen Beziehung. Die Kunstschaffenden der verschiedenen avantgardistischen europäischen Bewegungen wie Kubismus, Futurismus, Dadaismus, Surrealismus und Konstruktivismus wollten nicht mehr nur Schöpfer*innen von ästhetischen Objekten sein oder die Realität abbilden, sondern strebten ehrgeizigere politische, gesellschaftliche und pädagogische Ziele an. Als politische und künstlerische Bewegungen orientierten sie sich stark an der Idee des Fortschritts und zeichneten sich durch besondere Radikalität gegenüber bestehenden politischen Verhältnissen oder vorherrschenden ästhetischen Normen aus.

Peter Bürger hat in seiner „Theorie der Avantgarde“ herausgearbeitet, dass die historischen Avantgardebewegungen ihr konzentriertes Ziel darin fanden, das im Ästhetizismus des endenden 19. Jahrhunderts autonom gesetzte, von der Lebenspraxis abgehobene Kunstwerk in die Lebenspraxis zu überführen. Kunst wurde Leben. Das Kunstwerk aus seiner ästhetischen Isoliertheit heraus in das Leben eindringen, so dass die Kunst ihren Unterscheidungsmodus gegenüber dem Leben aufgeben konnte.

Neue Kunstsparten, neue Formate in den Sechzigern und Siebzigern

Auch der Aufbruch der Künste in den Sechziger und Siebziger Jahren hat viel zu tun mit Politik. Happenings, Konzeptkunst, Partizipation. Neue Kunstsparten wie die Pop Art, Minimal Art, Konzeptkunst, Arte Povera, aber auch Happenings und Performances entwickelten sich. Mit den neuen Kunstformen wurde der öffentliche Raum erobert.

Wiederum waren politische und gesellschaftliche Themen und Prozesse Gegenstand künstlerischer Proteste. In den USA machte sich die Politisierung der amerikanischen Gesellschaft um 1970 auch in der Kunst bemerkbar: Eine ganze Generation von Künstler*innen bemühte sich, die Gesellschaft durch pragmatische Interventionen zu sensibilisieren. Künstler*innen wie Helen Mayer Harrison und Newton Harrison wandten sich der Ökologie zu. Sie wollten die Zerstörung der Umwelt nicht lediglich darstellen, sondern versuchten, durch ihre Kunst aktiv zur Lösung der Probleme beizutragen. Ein weiterer Schauplatz politischer Auseinandersetzung waren die Proteste gegen den Krieg in Vietnam. Künstler*innen wie Carolee Schneemann oder Martha Rosler nahmen sich des Themas an (Philip Ursprung).

Und schließlich forderte auch Joseph Beuys Ende der 1970er-Jahre ein kreatives Mitgestalten an der Gesellschaft und in der Politik. Kaum ein Künstler hat die Kunst so dauerhaft und nachhaltig auf das Soziale, Politische und Ökologische verpflichtet. Beuys wollte nicht Kunst über Politik und Geschichte machen, sondern die Kunst und die Politik gleichermaßen verändern und die Grenze zwischen Kunst und Politik infrage stellen.

„7000 Eichen: Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“, begonnen anlässlich der documenta 7 1982 in Kassel, wurde zum Emblem einer Kunst, sich jenseits der Grenzen der Kunstwelt den Fragen der Partizipation, der Urbanisierung und der Ökologie zuwendet. „7000 Eichen“ richtete sich an eine Öffentlichkeit, die weit über die Kunstinteressierten hinausging – typisch für die von Beuys formulierte Idee des „erweiterten Kunstbegriffs“. Es ist auch ein Kunstwerk, das die Zusammenarbeit mit Ämtern und Behörden, mit Landschaftsarchitekt*innen, mit Kurator*innen und lokalen Bürgervereinen beinhaltete. Nicht zuletzt war es ein organisatorischer Kraftakt, der jahrelanges Fundraising erforderte, unter anderem auch durch Spendenaufrufe, Baum-Patenschaften, eine Performance sowie eine Werbekampagne von Beuys für eine japanische Whiskeymarke.

Entkunstung – Das Ersetzen der Kunst durch Politik

In der aktuellen Diskussion wird die stärkere Indienstnahme der Kunst durch die Politik durchaus kritisch betrachtet. Da identifiziert Harald Kimpel als eines der Hauptprobleme der vergangenen documenta fifteen deren „Entkunstung“ – das Ersetzen der Kunst durch Politik. Die Ausstellung könne sich kaum noch Ausstellung nennen, weil sie darauf verzichte, Kunst zu präsentieren.

Der Begriff der Entkunstung und der Blick auf das Phänomen ist keineswegs neu. Theodor W. Adorno spricht in seiner „Ästhetischen Theorie“ dort von Entkunstung, wo die Kunst ihre Autonomie, ihre ästhetische Reinheit und Abspaltung von anderen Sphären der Gesellschaft aufgibt. Für Adorno ist das in erster Linie der Fall, wenn die Kunst durch die Kulturindustrie vereinnahmt wird.

Sein Konzept der Entkunstung lässt sich aber auch auf eine Vereinnahmung der Kunst durch die Politik übertragen. Durch ihre Entkunstung verzichtet die Kunst auf ihr utopisches Potenzial. Dafür kann sie an realpolitischem Veränderungspotenzial gewinnen.

Was passiert mit der Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie?

Es gibt auf die beschriebenen aktuellen Tendenzen in der Kunstwelt und im ästhetischen Diskurs keine einhelligen Reaktionen. Positionen, die die beschriebene Form der Entkunstung befürworten, stehen solchen gegenüber, die die Indienstnahmevon Kunst, ihre Entkunstung zu politischen Zwecken verdammen. Sie erheben sorgenvoll die Frage: Wenn die Kunst nicht länger Selbstzweck ist, wessen Zwecken dient sie dann? Und ist sozial engagierte und politische engagierte Kunst überhaupt Kunst? Oder ist sie Kultur und Ausdruck eines Kulturalismus?

Bazon Brock hat mit Blick auf die documenta fifteen vom Fehlen von Kunst gesprochen. Er warnte vor der Entmachtung des künstlerischen Individuums durch die Herrschaft der Kollektive, monierte die Verwechslung von Kultur mit Kunst und diagnostizierte die Ausstellung als das Ergebnis eines Kulturalismus, der sich in seinem Kern jeder Kritik entziehe, weil alles nur im kulturellen Kontext gesehen werden dürfe und damit per se legitimiert sei. Gesinnungskitsch, ausgestellte Sozialarbeit, Agitprop von Künstler*innengruppen in rebellischer postkolonialer Pose statt Kunst. Aber die Entmachtung des künstlerischen Genies im Sinne Kants ist längst schon im Gange.

Hat sich die Gegenwartskunst, hat sich auch documenta als Institution so stark politisiert, dass sie in der Gesellschaft primär als politische Veranstaltung wahrgenommen wird? Muss die Forderung also lauten: Depolitisiert die Gegenwartskunst, depolitisiert die documenta, wie es etwa Harry Lehmann gefordert hat? Wird die Gegenwartskunst, wird die documenta ein Spielball der Politik bleiben und sich in deren Kämpfen verschleißen, wenn sie nicht einen Paradigmenwechsel vornimmt? Muss sie, anstatt dem Leitbild einer Einheit von Kunst und Politik zu folgen, die Differenz von Kunst und Politik betonen? Ist diese Forderung der richtige Rückschluss für die Zukunft?

Wolfgang Ullrich beschreibt das Phänomen in seinem Essay „Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie“ sehr viel grundsätzlicher als Anzeichen eines grundlegenden Strukturwandels. Kunst ist sich längst nicht mehr selbst genug, sondern strebt nach politischer und ökonomischer Bedeutung. Ullrich legt ausführlich dar, dass vor allem jüngere Künstler*innen und Kurator*innen von der Kunst erwarten, dass sie gegen Formen von Benachteiligung vorgeht; sie soll Empathie mit Minderheiten fördern. Man setzt auf Vernetzung, Community Building und Empowerment. Kunst, Gesellschaft und Politik rücken wieder enger zusammen. Das birgt nicht nur Risiken, sondern bietet zugleich auch viele Chancen.

Ullrich steht mit der Identifikation eines grundlegenden Strukturwandels keineswegs allein da. In der Kunstwissenschaft wird unter dem Stichwort der „Entgrenzung der Künste“ schon seit Längerem ein postautonomes Verständnis von Kunst diskutiert, in deren Folge die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst destabilisiert wird.

Die Kunst nimmt sich das Recht, Bereiche und Situationen, die vorher klar als Nicht-Kunst markiert waren, für sich und ihre Belange in Anspruch zu nehmen, und partizipiert in der Folge an gesellschaftlichen Bereichen, von denen sie sonst ausgeschlossen bliebe. Damit öffnet sie den exklusiven Kunstraum.

Für die Zukunft der Kunst ergeben sich daraus zentrale Perspektiven: Wie politisch kann, darf und muss Kunst sein? Was kann Kunst in unserer Gesellschaft heute bewegen? Welchen Sinn kann Kunst in Zeiten substanzieller Multikrisen, wie wir sie gegenwärtig in einem bislang kaum bekannten Umfang erleben, eigentlich stiften? Wofür steht Kunst ein und was kann sie für ein gutes und gelingendes Leben bedeuten? Diese Fragen werden gegenwärtig ganz neu verhandelt.

Es lohnt sich, sich auf diese Diskussion einzulassen. Sie ist keineswegs abgeschlossen, sondern hat eben erst begonnen.

Andreas Hoffmann ist seit Mai 2023 Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, zu der neben der documenta das Fridericianum, das documenta archiv, die documenta Halle und das documenta Institut gehören. Zuvor war er u. a. Geschäftsführer des Bucerius Kunst Forums sowie der Freunde der Kunsthalle Hamburg. Er lehrt am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Hoffmann studierte Klassische Archäologie und absolvierte eine Ausbildung zum PR-Referenten.