Die Zukunft hat schon begonnen

Ina Karr

Ina Karr ist seit 2021 Intendantin des Luzerner Theaters, wo sie Ensembles in allen Sparten, die Sparte „jung“ sowie eine interne Weiterbildungsakademie etablierte. Davor war sie in leitenden Positionen an den Staatstheatern Mainz, Oldenburg und Mannheim tätig und übernahm darüber hinaus Produktionsdramaturgien, u. a. bei den Salzburger Festspielen und im Bereich zeitgenössisches Musiktheater.

In Luzern wird (hoffentlich) ab 2025 ein neuer Theaterbau im Detail geplant – wenn das Stimmvolk positiv darüber abstimmt. Die Diskussion um die bauliche Veränderung der Hülle des Luzerner Theaters ist dabei eng verknüpft mit der um das Theater als Kunstform. Ganz schweizerisch werden im Rahmen einer solchen Abstimmung Fragen von Grund auf gestellt: Welche Rolle spielt das Theater für die Gesellschaft und braucht es in der Zukunft überhaupt noch Oper, Schauspiel, Tanz? Und wenn ja, was erwarten Menschen perspektivisch vom Theater? Wenn wir das Theater als kulturelles und diskursives Zentrum, als Agora einer Stadt weiter behaupten wollen, wie sähe dieses Theater der Zukunft aus, für das das alte Gebäude saniert und mit neuen Sälen, neuer Infrastruktur erweitert werden soll?

Bei Theaterschaffenden erzeugt das Fabulieren über die Zukunftsfähigkeit der Kunstform Theater natürlich erst einmal ein leichtes Unbehagen. Denn noch immer haftet dem Begriff „Zukunft“ ein diskursiv zwar mittlerweile überkommener, aber dennoch mitschwingender Fortschrittsgedanke an, der ein „Höher, Schneller, Weiter“ beinhaltet, sei es im technischen, wirtschaftlichen, sozialen oder forschenden Bereich. Und gleichzeitig ist „die Zukunft" bei all den globalen Krisenzuständen, mit denen wir konfrontiert sind, keine Hoffnungsträgerin mehr.

Die Zukunftstauglichkeit des Theaters allein als Wettbewerb zu apostrophieren, verfehlt dessen Wesenskern und damit dessen eigentliche Kraft. Denn das Theater als Ort des Spiels, der Ideen und Fantasien hat die Möglichkeiten und die Aufgabe, den jeweils gegenwärtigen Ereignissen, Konflikten, Krisen und Zuständen auf der Welt ins Gesicht zu schauen und den Ängsten und Zukunftsprognosen künstlerisch zu begegnen. Dabei vermag es unsere Zukunftsaussichten nicht nur dystopisch weiterzutreiben, sondern in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und im lebhaften Austausch in erster Linie einmal (Gedanken-)Räume zu schaffen, also sogar utopisch zu wirken. Denn die Multiperspektivität des Theaters macht uns darauf aufmerksam, dass wir oft nur einen Ausschnitt der Welt wahrnehmen oder wahrnehmen wollen. Wenn wir mehr sehen möchten, ist es unerlässlich, die Perspektive oder den Standpunkt zu wechseln. Und genau da kommt das Theater ins Spiel: Indem wir, geleitet durch die Geschichten und das Geschehen auf der Bühne, in die verschiedenen Perspektiven der Figuren eintauchen, blicken wir nicht nur durch die eigenen Augen, sondern auch durch die von anderen.

Angesichts der weltweit zunehmend konfliktär geführten Auseinandersetzungen unserer Gesellschaft wird das Theater auch in Zukunft etwas beizutragen haben. Wobei die Zukunft von der Gegenwart und umgekehrt nicht zu trennen ist, wie Robert Jungk als einer der ersten Zukunftsforscher schon formulierte: „Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: Die Zukunft hat schon begonnen.“

Vielleicht ist es daher treffender, von künstlerischer Zeitgenossenschaft zu sprechen als von unserer Gegenwart und einer davon scheinbar entfernten Zukunft. Wir alle im Jetzt und Hier gestalten das, was kommt – für uns und für die, die auf uns folgen. Theater versteht sich als ein Ort dafür, zeitgenössische Theaterkunst – ob im Musiktheater, im Schauspiel, im Tanz oder im Kinder- und Jugendtheater – zu entwickeln und damit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer wieder zueinander in Bezug zu setzen. Ein Weiterdenken der Institution Theater in die Zukunft ist damit implizit gesetzt.

Schlagen wir den Bogen zurück nach vorn: zur Theaterzukunft in Luzern. Was heißt das für einen Neubau? Künstlerisch bedeutet es, auf die Theaterkunst zu vertrauen und institutionell dafür ein Gebäude der Möglichkeiten zu schaffen, eines, das funktional den Erfordernissen eines Mehrspartenhauses begegnet, architektonisch einlädt und kühn genug gedacht ist, um auch für das, was wir uns jetzt ästhetisch und künstlerisch noch gar nicht ausdenken können, zu passen.

Und zu der Frage, was die Menschen zukünftig vom Theater brauchen – es ist wohl mehr denn je ein Ort, an dem man gemeinsam erlebt und sich als Teil einer Gesellschaft wahrnehmen kann. Denn „bei wie vielen Tätigkeiten wollen wir zukünftig eigentlich noch zu Hause bleiben – nur weil es möglich ist?“, fragt der Kulturjournalist Simon Strauß in einem Artikel über ein theatrales VR-Projekt für zu Hause. Und weiter: „Vielleicht wird das Theater der Zukunft ein Ort sein, an dem sich Menschen treffen, um einander nicht aus den Augen zu verlieren. Nicht nur eine Schule des Sehens, sondern auch eine des Aufeinander-Achtens.“ Das Theater als empathisch-analoger Raum, sowohl in der Begegnung mit anderen als auch in der Betrachtung des Spiels, könnte ein Leitmotiv für die Zukunft sein.

Ina Karr ist seit 2021 Intendantin des Luzerner Theaters, wo sie Ensembles in allen Sparten, die Sparte „jung“ sowie eine interne Weiterbildungsakademie etablierte. Davor war sie in leitenden Positionen an den Staatstheatern Mainz, Oldenburg und Mannheim tätig und übernahm darüber hinaus Produktionsdramaturgien, u. a. bei den Salzburger Festspielen und im Bereich zeitgenössisches Musiktheater.