Herkunft braucht Zukunft

Ulrike Lorenz

Ulrike Lorenz ist seit 2019 Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar. Als Direktorin der Kunsthalle Mannheim (2009–2019) realisierte sie einen zukunftsweisenden Neubau mit dynamischem Museumskonzept. Zuvor leitete die Kunsthistorikerin das Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg und die Kunstsammlung Gera. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kunst und Architektur der Klassischen Moderne und Gegenwart.

„In the long run we all are dead.“ Lord Keynes hat es gewusst, und wir wissen es eigentlich auch: Unsere Lebenszeit ist kurz und der Tod stets schneller als die Zukunftspläne, die wir uns zutrauen. Unsere Gestaltungsmacht, unsere Freiheit zu Neuem ist begrenzt. Wo wir anfangen, ist immer schon viel. Uns prägt der Geschichtsraum, aus dem wir kommen, das Herkömmliche, in dem wir uns einrichten. „Zukunft braucht Herkunft“, pointiert Odo Marquard. Doch muss auch die dialektische Antithese gelten: Herkunft braucht Zukunft. Wie sonst könnten wir leben? Friedrich Nietzsche spricht vom vitalen Interesse des Menschen, sich der Historie insoweit zu bedienen, wie seine Kultur sie zum Weiterleben braucht. Dabei sieht er eine „plastische Kraft“ am Werk, „Vergangenes und Fremdes umzubilden und sich einzuverleiben“.

Denn das Wachrufen der Vergangenheit schafft Raum für Metamorphosen. Das Erinnerte kann zum Einfallstor des Neuen werden. Aleida Assmann beobachtet, wie die sinnliche und intellektuelle Reaktivierung von Selbsterlebtem oder Vorgedachtem in Kunst und Wissenschaft, die Verknüpfung des Gesammelten und Akkumulierten in Museen und Archiven zu überraschenden Ausformungen und ungeahnten Entwicklungen, ja zur Herstellung kritisch dichter Hybride des Kommenden führen. Kulturelle Aneignung des Vergangenen, Fernen oder Fremden ist kritische Transformation, aus der Unvorhergesehenes, Vorwärtstreibendes, Neuartiges entspringen kann. Schöpfung ohne Erinnerung scheint unmöglich. Erinnerung ohne transformierende Aneignung erstarrt. Im zyklischen Zurückholen und Neuformatieren verdichten sich innere Bilder zu überraschenden Werken, stellen Ausstellungen und Forschungsergebnisse erkenntnisstiftende Kontexte und Horizonterweiterungen her. Kunst, der einzige Zwilling, den das Leben hat, ist eine durch Filter und Spiegel mehrfach gebrochene und reflektierende Praxis der Erinnerung, in der Künstler und Betrachter mehr wiederfinden, als verloren gegangen ist.

„Solange die Museen nicht versteinern, werden sie sich wandeln müssen. Jede Generation wird ihnen neue Aufgaben bieten und neue Leistungen abverlangen.“ Was Alfred Lichtwark um 1900 deklarierte, gilt heute und für komplexe Kulturinstitutionen wie die Klassik Stiftung Weimar erst recht. Öffentliche Kulturinstitutionen sind per definitionem für alle da – als dritte Orte der Besonnenheit, in denen Diskurs und Differenzierung, Deutung und Dissens ohne Gefahr für Leib und Leben eingeübt werden können. Ihr Vertrauensbonus als Hüter des kulturellen Erbes und künstlerischer Spitzenleistungen prädestiniert sie, Brückenbauer zu sein zwischen Vergangenheit und Zukunft, Vermittler zwischen sozialen Klassen und politischen Zentrifugalkräften der modernen Gesellschaft. Und mehr noch: Kultur kann auch Initiatorin wilder Allianzen werden, die es braucht, um Zukunft nicht nur zu denken, sondern auch aktiv zu verwirklichen. Diese Perspektive allerdings braucht eine Aufweitung des traditionellen Funktionskerns, die strukturelle Metamorphosen voraussetzt und erzeugt. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.

Strukturelle Metamorphosen erweisen sich als überlebensnotwendig für den Kultursektor in Deutschland. Wollen Gedächtnisinstitutionen nicht nur anschlussfähig bleiben für eine rasant sich wandelnde Gegenwart, sondern auch selbstbestimmt Zukunft mitgestalten, braucht es tiefgreifende Änderungen in Organisationsstrukturen, Arbeitsprozessen, Regulierungssystemen – und im Selbstverständnis der Institutionen selbst wie auch bei ihren Trägern und Geldgebern. Dafür freilich müssen wir die Hände aus den Taschen nehmen. Denn das Neue kommt nicht durch Geschwätz in die Welt, sondern durch Handeln. Und nur im Handeln – gerrere – entsteht Geschichte: res gestae.
Die Klassik Stiftung Weimar hat – frei nach Hans Blumenberg – das Weiterarbeiten am Mythos bis zu dessen äußerster Verformung auf ihre Agenda gesetzt. Es gilt, alternative Erzählungen und Praktiken zu suchen und zu erkunden. Vor der Folie des unheilbaren Konnexes von Hochkultur und Kulturbruch in Weimar gehen wir das Wagnis ein, uns als ein „Labor der Humanität“ zu begreifen und auszuprobieren. Dabei geht es um nicht weniger als eine Neucodierung des kulturellen Potenzials. Wie soll eine gute Gesellschaft heute, wie muss ein lebenswertes Leben morgen aussehen? Die alte Bauhaus-Frage neu gestellt: Welche Formen des Gemeinwesens wollen wir erstreben? Wer kulturelle Zukunftskonzepte entwickeln will, muss starke Geschichten erzählen. Immerhin – zwei bewegende Visionen sind von Weimar aus schon einmal in die Welt gegangen: Fausts unbedingtes Erkenntnisverlangen „Was die Welt im Innersten zusammenhält“, das in die Katastrophe führen kann, und die „Kathedrale der Zukunft“ – zumindest als Bildsymbol von Lyonel Feininger in expressiver Emphase für das Bauhaus-Manifest 1919 entworfen.

Im Moment denken wir ganz konkret mit zeitgenössischen Künstlern über zukunftsgewandte Formen der Erinnerung für das Goethe-Nationalmuseum nach. Denn ein europäisches Ideenlabor war das Haus am Frauenplan zu Goethes langen Lebzeiten während einer fundamentalen Zeitenwende längst. Er, der sich als „être collectif“ – als ein kreatives, kommunizierendes Kollektivwesen im dialektischen Austausch mit den Weltkulturen und zwischen den Disziplinen – verstand, machte diesen Ort zu seinem Denkwerkzeug und Arbeitsinstrument – und zum Knotenpunkt eines internationalen Netzwerks von Zeitgenossinnen, Intellektuellen, Politikerinnen und Künstlern. Doch alle nachgeborenen Generationen haben diesen Ort mit „ihrem“ zunehmend ideologisierten und erstarrten Bild von Goethe überformt und so ein nationales Kultursymbol der Sonderklasse fiktionalisiert. Heute finden wir einen einzigartig widersprüchlichen Überlagerungskomplex vor, in dem sich materielles und immaterielles Kulturerbe und Gegenwart, Kunst und Politik, Provinz und Weltgeschichte unauflöslich verknüpfen. Durch äußerst sorgfältiges Freilegen und Herauspräparieren gilt es nun, das Dichterhaus als ambivalenten Gedächtnisort mit vielen Beteiligten zu einer europäischen Zukunftswerkstatt zu gestalten. Hier sollen künftig Menschen unterschiedlichster Prägungen Motivation und Inspiration für ihre jeweils eigenen Wege ins Offene gewinnen.

Zerrissen zwischen Geschichte und Zukunft, ringen wir mit uns selbst in prekärer Gegenwart. Dabei entspringt aus der Unmöglichkeit, den bis in die äußerste Verformung voranzutreibenden Mythos jemals an ein Ende zu bringen, ein Paradox. Aus Überfülle und Last der Historie erwächst verstörende Gegenwärtigkeit: der Mut zum Ausstieg aus den Zyklen der Erben und Epigonen; der Versuch, probeweise auf Widerrede, Weiterdenken, Transformieren zu setzen statt auf Rezeption, Reproduktion, Rekonstruktion; Anstelle der ewigen Historisierung, Musealisierung, Philologisierung ein anfechtbares Einklinken in die Diskurse unserer Tage zu wagen.

Jedenfalls geht es darum, eine neue und andere Erinnerungskultur zu etablieren, die sich nicht in Fiktionalisierung, Identifikation und Emotionalisierung erschöpft, sondern auf die Wahrnehmung von Differenz und die Fähigkeit zu Differenzierung und Urteilskraft zielt. Auf ein Geschichtsbewusstsein, das reflektierend, nicht restaurativ ist und eher von einer möglichen Zukunft als von imaginären Vergangenheiten träumt. Kurz: Erinnerung nach vorn.

Ulrike Lorenz ist seit 2019 Präsidentin der Klassik Stiftung Weimar. Als Direktorin der Kunsthalle Mannheim (2009–2019) realisierte sie einen zukunftsweisenden Neubau mit dynamischem Museumskonzept. Zuvor leitete die Kunsthistorikerin das Kunstforum Ostdeutsche Galerie in Regensburg und die Kunstsammlung Gera. Sie ist Mitglied der Akademie der Künste, Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kunst und Architektur der Klassischen Moderne und Gegenwart.