Zukunftstakte!

Thorsten Schmidt

Thorsten Schmidt ist Gründungsintendant des Heidelberger Frühlings, der zu den renommiertesten und größten Festivalinstitutionen in Deutschland zählt. Neben dem Musikfestival im Frühling gründete er auch das Heidelberger Frühling Streichquartettfest und das Liedfestival, etablierte das Liedzentrum, die Music Conference und einen Akademiebereich für Nachwuchsförderung. Die Heidelberger Frühling gGmbH wird über einen beeindruckenden Kreis von Sponsoren und Mäzenen finanziert. Seit der Saison 2022/23 ist Igor Levit an Schmidts Seite für fünf Jahre Co-Künstlerischer Leiter des Musikfestivals.

Wer wie wir den Anspruch hat, Zukunft zu gestalten, muss sich bewusst sein, keine einfache Aufgabe vor sich zu haben. Der Weg von der Gegenwart in die Zukunft ist stets durch Veränderungen gekennzeichnet. Im Status quo zu verharren ist der sichere Weg in Richtung abnehmender Möglichkeitsräume. Veränderungen durchzusetzen ist nie einfach.

Für uns als Festival und später als Unternehmen mit mehreren Festivals, Akademien, Laborprojekten, einer Konferenz und dem Heidelberger Frühling Liedzentrum stand stets die Frage nach der Gestaltung der Zukunft des Konzertes im Vordergrund unserer Arbeit. In unserer Programmgestaltung vertreten wir bis heute die Überzeugung, dass Kunst und Gesellschaft nicht losgelöst voneinander gelesen werden können. Musik ist nicht unabhängig von ihrer Zeit zu verstehen, sie agiert seismografisch, verarbeitet Tradition, reagiert auf die Gegenwart und weist im Idealfall in die Zukunft. Das Verstehen der Gegenwart setzt – frei nach August Bebel – die Kenntnis der Vergangenheit und damit in unserem Falle die Kenntnis der kulturhistorischen und gesellschaftlichen Tradition voraus. Beides zusammen ermöglicht uns erst die Gestaltung der Zukunft.

Wir leben in einer Zeit der Transformation. Neue Themenfelder prägen den Diskurs. Unsere Aufgabe als Kulturschaffende ist es, die drängenden Fragestellungen in unserer Arbeit zu thematisieren, den Diskurs anzustoßen und dabei die Dialogfähigkeit zu erhalten. Zukunft entsteht durch Reibung. Denn dort, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufeinandertreffen, gibt es unterschiedliche Bewegungsmuster: Verteidigung des Status quo und Vorwärtsdrang. Wer zu neuen Ufern aufbrechen möchte, muss sich damit auseinandersetzen, was er zurücklassen möchte. Seit Gründung des Heidelberger Frühlings 1997 reagieren wir mit unseren Programmen auf Diskurse und Entwicklungen in der Gesellschaft, versuchen sie über die Dramaturgie und die hinter der Musik liegenden Geschichten erlebbar zu machen.

Wir erleben, dass Transformationsprozesse erhebliche Gegenbewegungen auslösen können, erfahren aber genauso, dass kritische Diagnosen von vermeintlich negativen gesellschaftlichen Entwicklungen nichts anderes beschreiben als einen Veränderungsprozess, der erst 20 Jahre später für die Allgemeinheit wahrnehmbar wird.

Der Historiker Eric Hobsbawm schrieb 1994 in seinem Buch „Das Zeitalter der Extreme“: „Die Zerstörung der Vergangenheit, oder vielmehr die jenes sozialen Mechanismus, der die Gegenwartserfahrung mit derjenigen früherer Generationen verknüpft, ist eines der charakteristischsten und unheimlichsten Phänomene des späten 20. Jahrhunderts. Die meisten jungen Menschen am Ende dieses Jahrhunderts (des 20. Jahrhunderts) wachsen in einer Art permanenter Gegenwart auf, der jegliche organische Verbindung zur Vergangenheit ihrer eigenen Lebenszeit fehlt.“

Im Jahr 1994 war das Generationenkritik. Aber die hier kritisierte Haltung führte für die kommenden Generationen zur Freiheit, die Geschichte und gesellschaftliche Entwicklungen neu zu lesen und damit Weichenstellungen für die Zukunft zu legen. Zur Gestaltung der Zukunft gehört eben auch, sich freizumachen von Denkmustern. Die Kritik von Hobsbawm beschreibt nichts anderes als den Prozess, der die uns heute prägenden leidenschaftlichen Fragestellungen und Aufgaben wie Diversität, das Hinterfragen von kolonialen Strukturen oder z. B. auch die Machtstrukturen unseres Kulturbereiches und vor diesem Hintergrund die programmatischen Neuausrichtungen unserer Arbeit überhaupt erst möglich gemacht hat.

Die spätere Kulturstaatsministerin Christina Weiss schrieb 1993: „Kultur (markiert) die geistigen und sozialen Koordinaten einer Gemeinschaft. Kultur ist der Prozess des Selbstbewusstseins und der Selbstgestaltung einer Gesellschaft, die in unablässigen Diskursen ihre Geschichte formt und ihr inneres Zusammenwirken reflektiert. Kultur umgrenzt das Spielfeld der Auseinandersetzung einer Gemeinschaft mit ihren Traditionen, ihren Werten, ihren Zielen und Konflikten.“

Damit wird Kultur zu einer bedeutenden gestaltenden Kraft von Zukunft. Kultur ist also kein schmückendes Beiwerk, sondern steht im Zentrum gesellschaftlicher Entwicklung. Ich habe ganz bewusst in diesem kleinen Beitrag mich prägende Zitate aus dem zeitlichen Umfeld der Entstehung des Heidelberger Frühlings verwendet, natürlich August Bebel ausgenommen. Sie zeigen, dass es eine positive verbindende Kraft zwischen Vergangenheit und Zukunft gibt. Wer die Vergangenheit nicht kennt, wird die Zukunft nicht gestalten. Unsere Arbeit findet stets im Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft statt.

Thorsten Schmidt ist Gründungsintendant des Heidelberger Frühlings, der zu den renommiertesten und größten Festivalinstitutionen in Deutschland zählt. Neben dem Musikfestival im Frühling gründete er auch das Heidelberger Frühling Streichquartettfest und das Liedfestival, etablierte das Liedzentrum, die Music Conference und einen Akademiebereich für Nachwuchsförderung. Die Heidelberger Frühling gGmbH wird über einen beeindruckenden Kreis von Sponsoren und Mäzenen finanziert. Seit der Saison 2022/23 ist Igor Levit an Schmidts Seite für fünf Jahre Co-Künstlerischer Leiter des Musikfestivals.