Von Verführungskünsten und verborgenen Revolutionen

Ilona Schmiel

Ilona Schmiel übernahm als jüngste Intendantin Deutschlands von 1998 bis 2002 die Geschäftsführung und künstlerische Leitung des Bremer Konzerthauses Die Glocke. Von 2004 bis 2013 war sie Intendantin und Geschäftsführerin des Beethovenfestes Bonn. Seit der Saison 2014/15 leitet Ilona Schmiel als Intendantin die Geschicke der Tonhalle-Gesellschaft Zürich mit Verantwortung für die Tonhalle Zürich und das Tonhalle-Orchester Zürich.

Ein Rückblick auf 25 Jahre im klassischen Musikbetrieb – und die Frage, was braucht es in Zukunft?

Bremen, 1999 − wir verfügten über einen wunderbar renovierten Konzertsaal, Die Glocke. Und wir stellten uns schon damals den Herausforderungen, die auch heute gelten: zunehmend überaltertes Publikum, zeitgenössische Musik Fehlanzeige oder Nischenprodukt, Musikunterricht in den Schulen in der Krise, Liederabende mit nur 200 Personen im Saal, deutlicher Anstieg von Konzertveranstaltungen und -veranstaltern, kein ausreichendes Programmbudget, öffentliche Subventionen in der Dauerdiskussion, Sponsoren eher auf Sport als Kultur fixiert.

Wir steuerten gegen: mit innovativen Programmkonzepten, Vergabe von Auftragskompositionen, „langen Nächten“, einem Fokus auf traditionelle asiatische Musik, Klanginstallationen im kompletten Konzertgebäude, mit Musikvermittlungsprojekten für alle Altersgruppen. Wir intensivierten den Austausch mit Sponsoren und deren Mitarbeitenden und stellten das entsprechende zusätzliche Personal in der Organisation für alle erweiterten Aufgaben ein. Wir kreierten eine Willkommenskultur mit einem studentischen Team als Vorderhauspersonal und brachten Veranstalter an einen Tisch, um uns gemeinsam diesen Aufgaben zu stellen. Unsere Angebote vermarkteten wir zielgruppengerecht. Radio Bremen sowie Plattenlabels produzierten bei uns gerne, und die kleine, aber feine Schar der Kritiker war regelmäßig vor Ort. Sie berichteten verlässlich nach Veranstaltungen und liebten Themen für Vorberichterstattungen jeder Art. Wir steigerten kontinuierlich die Auslastung und erreichten neue Publika. Zu meiner Rolle befragt, war meine Antwort: Ich agiere als „professionelle Verführungskünstlerin“ und muss unserer Zeit voraus sein.

Bremen, 2000 – während noch die Frage wie ein Damoklesschwert über uns kreiste, wie wir den Sprung ins bedeutungsvoll aufgeladene neue Jahrtausend schaffen würden, passierte die eigentliche Revolution längst im Verborgenen. Im Januar 2000 gingen wir per Mausklick nach einem Konzert erstmals „ins Internet“. Die Digitalisierung begann auch in den Kulturbetrieben. Sie ermöglichte neue Formen der Interaktion, Kommunikation und Produktion, und sie schuf neue Ausbildungsangebote und Berufsbilder.

Zürich, 2024 – als Intendantin des Tonhalle-Orchesters Zürich und der Tonhalle Zürich trage ich mit meinem Team die Verantwortung für eines der Top-Sinfonieorchester in Europa und weltweit. Wir verfügen über beste künstlerische Rahmenbedingungen: Mit Paavo Järvi haben wir einen der begehrtesten Chefdirigenten mittelfristig an uns gebunden, und wir betreiben einen eigenen Konzertsaal aus dem Jahr 1895, der nach umfassender Renovierung optisch und akustisch zu den besten in Europa zählt.

Dennoch entsprechen die Herausforderungen nach wie vor denen aus dem Jahr 1999, und sie haben sich in einigen Punkten verstärkt.

Dank Digitalisierung und veränderter Mediennutzung ist es für sämtliche Altersgruppen möglich, sich kontinuierlich und spontan über Angebote zu informieren und klassische Musik auf Plattformen zu nutzen. Wir verfügen alle permanent über mehr als 450 Jahre Musikgeschichte online. Unsere neue Rolle entspricht daher einem GPS, das durch dieses Überangebot an Kompositionen, Künstlern und Produktionen führt. Wir kuratieren aus Bestehendem, kreieren Neues und schaffen Zusammenhänge, die für ein Publikum interessant und nicht sofort per Suchmaschine zu finden sind.

Dabei verschiebt sich das Interesse von den Werken hin zu den Interpreten und Interpretinnen. Der Starkult und die Möglichkeit, sich selbst zu inszenieren, sind sichtbarer denn je. Das Tempo, in dem junge Künstlerinnen und Künstler medial in die vermeintliche Topliga katapultiert werden, nimmt rasant zu. Alle können digital Anteil nehmen und Entwicklungen minutiös verfolgen. Unsere Rolle ist nun auch vermehrt eine Schutzfunktion: vor zu schnellen Karrieren, ungünstiger Werkauswahl und zu stark pushenden Agenturen. Sie erfordert eine künstlerische Planung mit Augenmaß, die zu Erfolgen, nicht zu Abstürzen führt. Obwohl alles online verfügbar ist, ersetzt nichts die persönliche „Live-Erfahrung“ für ein Engagement. Künstler und Künstlerinnen müssen akzeptieren, dass in dieser veränderten Welt Nähe zum Publikum ein zentrales Kriterium ist. Wer herausragendes Können ausschließlich im Konzert präsentiert, aber danach nicht für die größere Öffentlichkeit ansprechbar ist, wird verlieren. Da ein Großteil des bestehenden wie auch heranwachsenden Publikums nur eine begrenzte Anzahl an Künstlerinnen und Künstler unserer Branche kennt, müssen Begegnung und Austausch unmittelbar im Umfeld von Konzerten möglich sein. Und gute Geschichten müssen im Vorfeld und Nachgang erzählt werden.

Die Bedeutung des Gesamterlebnisses nimmt kontinuierlich zu. Das Konzert ist nur ein, wenn auch zentraler Baustein davon. Hinzu kommt: Wen treffe ich an diesem Ort, vorher oder hinterher? Wie ist die Aufenthaltsqualität, wie gut das gastronomische Angebot? Diese Fragen sind berechtigt in einem kompetitiven Umfeld, in dem es „Events“ und Angebote außerhalb der Arbeitszeiten in ausufernder Fülle gibt. Wenn man den Trends glauben kann, wird es zukünftig mehr Freizeit geben. Eigentlich eine gute Voraussetzung, um noch mehr Publikum zu erreichen. Aber die „Verführungskünste“ der Verantwortlichen müssen um ein Mehrfaches wachsen: Einerseits braucht es passgenaue Angebote für ein neues Publikum, ohne die künstlerische Freiheit einzuschränken; andererseits müssen Förderer überzeugt werden, auch das zu fördern, was sie nicht kennen.

Enorme Flexibilität beim Führen von Kulturinstitutionen, die normalerweise lange Planungsvorläufe haben, haben wir spätestens seit der Coronapandemie verinnerlicht und gelernt. Die Flexibilität unseres neuen wie zukünftigen Publikums macht uns dagegen noch zu schaffen.

Auch wenn sich die Welt immer schneller dreht und die Digitalisierung dank KI vorangetrieben wird, zeigt sich schon jetzt: In einer fragilen Welt benötigen wir als Menschen Zusammenhalt und Schönheit. Beides bietet ein klassisches Konzert. Ein kollektives Erlebnis, das individuell wahrgenommen wird. Klassische Musik ist in unserer Geschichte und in unserem Bewusstsein verankert. Sie gehört zu unserer Identität und ist anschlussfähig für alle Menschen, unabhängig von Herkunft oder vorherigen Erfahrungen. Zu ihrer Schönheit müssen wir Zugänge schaffen, denn sie ist Nahrung für die Seele. Die werden wir auch in den nächsten 25 Jahren verstärkt brauchen.

Ilona Schmiel übernahm als jüngste Intendantin Deutschlands von 1998 bis 2002 die Geschäftsführung und künstlerische Leitung des Bremer Konzerthauses Die Glocke. Von 2004 bis 2013 war sie Intendantin und Geschäftsführerin des Beethovenfestes Bonn. Seit der Saison 2014/15 leitet Ilona Schmiel als Intendantin die Geschicke der Tonhalle-Gesellschaft Zürich mit Verantwortung für die Tonhalle Zürich und das Tonhalle-Orchester Zürich.