Die Zukunft oder Die Stärke des Unfertigen

Rüdiger Koch

Rüdiger Koch übernahm nach dem Studium in Marburg und Braunschweig leitende Tätigkeiten in der Erwachsenenbildung (KVHS Gifhorn) und Kultur (Stadt Braunschweig). Ab 1995 war er Beigeordneter für Kultur, Schule und Sport und ab 2008 zudem Bürgermeister der Landeshauptstadt Magdeburg. Er übernahm Lehraufträge und war Mitglied in zahlreichen Landes- und Bundesgremien. Seit Erreichen der beruflichen Altersgrenze 2014 ist er u. a. stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums „Neubau Synagoge Magdeburg“, Vorsitzender des Kuratoriums „Friedensforum Johanniskirche 1631–2031“ sowie Projektleiter des „Europäischen Zentrums für Puppentheaterspielkunst“.

Hatten studentische Generationen einst den Mao-Look als äußeren Ausdruck antiautoritärer Gleichheit verstanden, so werden wir heute digital seziert und ökonomisch verwertet. Der Populismus, eine Art Gegenbewegung, hat keinen sozialphilosophischen Vorlauf, wie die von Adorno, Horkheimer oder auch Sartre beeinflusste Studierendenbewegung der 1960er-Jahre. Der Populismus von heute nimmt sich singulärer Themen an, um sich hieraus ein abgeschlossenes Weltbild zu zimmern.

Dieser Populismus spielt mit der Ich-Schwäche des Individuums. Er sucht und findet seine Stärke im ausgrenzenden Wir, nicht in einem Wir in der Vielfalt. Letztere gilt es in einer offenen Gesellschaft „auszuhalten“. Dieses setzt das Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit voraus und die Neugier auf bisher Unerhörtes und -gedachtes.

Dieses Ich im Wir lebt in keinem gedanklichen Fertighaus. Die Menschen sind eben nicht im Bewusstsein ihrer gestalterischen Potenziale „fertig“. Hiermit wandelt sich die „Schwäche“ des Sich-Einlassens und -Öffnens in eigene Haltungsstärke und in einen gesellschaftlichen, einen kulturellen Mehrwert. Die Stärke geht von uns aus und über uns hinaus. Und sie lässt sich nicht abschließen, im Jetzt oder in etwa 25 Jahren.

Gerade in epochalen Umbruchzeiten wie den unsrigen bedarf es hierzu werte- und kulturstiftender Räume. Sie sind in ihrer jeweiligen Besonderheit eine Ingredienz für unser Verständnis vom Sein, für unsere gewichteten Lebensinhalte, Nuklei für Diskurse, die unser demokratisches Gemeinwesen bereichern, mehr noch: normativ mitzugestalten vermögen.

Dieses ist nicht sofort ablesbar. In der auf kurzatmige Reize getrimmten öffentlichen Aufmerksamkeitsheische übersehen wir diese eher langfristig angelegten Prozesse häufig, bis uns die Auswirkungen etwa nach Schließung einst lebendiger Kulturräume scheinbar plötzlich einholen. Wer verbindet hierbei Ursache mit Wirkung?

Vielmehr werden wir allgegenwärtig mit Selbstgewissheiten konfrontiert, mit geistigen Shutdowns, mit dem Verhindern einer Diskurskultur. Damit einher geht ein Verlust an gelebter Demokratie.

Dieses ist nicht das Ergebnis eines Individualismus, vielmehr das eines Mitröhrens in stimulierten, medial hochgeladenen Echokammern. Auf die Akteure scheint es befreiend und gleichsam Ich-stärkend zu wirken, bisweilen bis zum Exzess.

Es mag ein primitiver Mechanismus sein, ein aus dem Stammhirn generiertes Wirgefühl, welches hierbei eine urtümliche Wärme vermittelt. Das eigene geistige Gefängnis wird als wertige, Ich-erhaltene Sicherheit mit Absolutheitsanspruch empfunden, gleichsam mit hergebrachten Festungsmauern

Wie passen diese Reflexe zu einer vernetzten Welt? Worum geht es? Wir reden nicht dem Beliebigen das Wort, nicht dem ungehörten Aufgeben eigener Positionen. Es geht um die Vielfalt der Potenziale dieser Welt, die zu hören und zu fördern über unsere Zukunft mitentscheidet. Hierzu zählt auch die Erfahrung eigenen Irrens und Scheiterns. Sie ist nicht mit dem Stigma des Versagens zu versehen. Im Gegenteil: Über diese Offenheit, die wiederholte gegenseitige Wahrnehmung und Abwägung von Haltung und Argumenten erwächst eine wertschöpfende, humane Kraft.

Heilversprechende Ideologien und erstarrte Selbstgewissheiten implizieren dagegen eine verarmte Kultur. Eine Minderung an gelebter Kultur leistet der Verbreitung einer erstarrten Selbstgewissheit wiederum Vorschub. Je weniger kulturelle Angebote in Gesellschaften gegenwärtig sind, desto empfänglicher sind diese für selbstvergewissernde Echokammern. Und dies hat negativen Einfluss auf den gesellschaftlichen Diskurs, auf die Grundlagen demokratisch verfasster Gesellschaften. Kultur ist auch deshalb kein nachrangiges Politikfeld, sie ist gesellschaftlich vielmehr ein hochbedeutsames.

Epilog

In seinen Songs gibt Lenny Kravitz der Liebe und Zuversicht immer wieder Ausdruck. In Angst und negativer Einstellung sieht er Gründe für soziale und politische Spannungen. Doch am Ende, so Lenny Kravitz, sind wir alle gleich: „Wovor haben wir also Angst? Vor uns selbst.“

Glauben wir mit Lenny Kravitz an das Gute, an uns im Wir. Schöpfen wir hieraus auch unsere Zuversicht, der Zukunft wegen.

Rüdiger Koch übernahm nach dem Studium in Marburg und Braunschweig leitende Tätigkeiten in der Erwachsenenbildung (KVHS Gifhorn) und Kultur (Stadt Braunschweig). Ab 1995 war er Beigeordneter für Kultur, Schule und Sport und ab 2008 zudem Bürgermeister der Landeshauptstadt Magdeburg. Er übernahm Lehraufträge und war Mitglied in zahlreichen Landes- und Bundesgremien. Seit Erreichen der beruflichen Altersgrenze 2014 ist er u. a. stellvertretender Vorsitzender des Kuratoriums „Neubau Synagoge Magdeburg“, Vorsitzender des Kuratoriums „Friedensforum Johanniskirche 1631–2031“ sowie Projektleiter des „Europäischen Zentrums für Puppentheaterspielkunst“.