Die Zukunft der Musik sind wir alle

Laila Mahmoud

Laila Mahmoud ist Musikerin, Musikpädagogin und Musikvermittlerin, spezialisiert auf Kanun, Klavier und Gesang. Sie schloss ihr Musikpädagogikstudium in Syrien ab und studierte an der Popakademie Baden-Württemberg. Laila zog von Syrien über den Libanon nach Deutschland und arbeitet mit renommierten Orchestern wie dem Bridges-Kammerorchester und dem Colourage-Ensemble der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz.

Der Musiksektor in Europa steht vor erheblichen Herausforderungen, aber auch vor vielversprechenden Chancen. Diese sind eng mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft. Deutschland ist eines der bedeutendsten Einwanderungsländer Europas mit einer vielfältigen und dynamischen Bevölkerung. Deren kulturelle Vielfalt spiegelt sich auch in der Musiklandschaft wider.

Politische Rahmenbedingungen und kulturelle Identität

Die Zukunft der Musik hängt maßgeblich davon ab, wie sich die politischen Rahmenbedingungen entwickeln. Es kommt darauf an anzuerkennen, dass unsere Gesellschaft keine bestimmte, festgelegte Identität hat. Stattdessen müssen alle Menschen, die hier leben, als integraler Bestandteil einer neuen, vielfältigen Identität angesehen werden. Dies muss nicht nur durch Worte, sondern auch durch konkrete Taten geschehen. Nur so wird man den Bedürfnissen und Potenzialen aller Menschen in unserer Gesellschaft gerecht.

Aktuell besteht ein zentrales Problem darin, wie Kultur definiert wird und wie Kulturschaffende damit umgehen. In der Musikszene zeigt sich folgende Situation: Zum einen bewegt sich Europa in Richtung rechtsradikaler Tendenzen, das Interesse an Kultur und Kunst nimmt ab. Zum anderen sinkt die Akzeptanz von Menschen mit Migrationshintergrund und aus Minderheiten. Das schafft zusätzliche Barrieren, die verhindern, dass alle Menschen in Deutschland Musikräume nutzen können und dass Musiker*innen mit Migrationshintergrund und aus Minderheiten sich in der Musikszene etablieren.

Wertschätzung und Anerkennung der kulturellen Vielfalt

Es ist jedoch gerade jetzt von großer Bedeutung, diese Musiker*innen und ihre Beiträge anzuerkennen und wertzuschätzen. Sie stellen wertvolle Quellen für die neue Musik der gegenwärtigen und kommenden Generationen dar. Andere Kulturen als wertvolle Lernquellen anzuerkennen und wertzuschätzen, kann uns helfen, gemeinsam Neues zu entwickeln. Unabhängig von der politischen Situation benötigen wir Unterstützung, um eine repräsentative Musikszene zu schaffen, in der alle Musiker*innen ihre Talente einbringen und entfalten können. Nur durch eine solche inklusive und transkulturelle Herangehensweise kann die Musikszene in Deutschland nachhaltig bereichert und weiterentwickelt werden.

Notwendigkeit von Räumen und Plattformen

Es besteht ein dringender Bedarf an Räumen und Plattformen für nicht-klassische Musik in Europa. Viele professionelle Musiker*innen, die aus verschiedenen Musikstilen stammen, kommen nach Europa in der Hoffnung auf bessere Lebensperspektiven. Oft fliehen sie vor Kriegen, wirtschaftlichen Krisen oder Umweltkatastrophen. In der Realität zeigen sich jedoch zahlreiche Barrieren. Viele dieser Musiker:innen haben kaum die Möglichkeit einer musikalischen (Weiter-)Bildung, ihre beruflichen Perspektiven sind stark eingeschränkt. Dadurch verschwindet die Musik dieser Künstler*innen. Sie wird nicht Teil der neuen kulturellen Identität unserer Gesellschaft. All dies führt zu mehr Barrieren im Zusammenleben und in der Entwicklung des musikalischen Erbes.

Ein Beispiel für diese Realität ist die Entwicklung der klassischen Musik. Ich halte es für notwendig zu fragen: Wohin soll sich klassische Musik entwickeln? Als Musiker*innen und Musikliebhaber*innen beschäftigen wir uns damit, wie nah die klassische Musik an den Veränderungen der Realität ist und wie offen die klassische Musikszene für eine Weiterentwicklung ist. Die Besucher*innenzahlen klassischer Musikveranstaltungen sinken, Investitionen in klassische Musik bringen bisher nicht genügend gesellschaftliche oder wirtschaftliche Erträge. Dieses Problem ist noch nicht ausreichend erkannt worden.

Zukünftig muss Diversität in Orchestern Platz finden. Im schulischen Bereich fehlt es in der Regel an einer vielfältigen musikalischen Ausbildung. Das Fach Musik tritt in den Hintergrund und wird oft durch klassische Musik dominiert. Viele Musiklehrer*innen sind nicht mit der Musik aus den Herkunftsländern ihrer Schüler*innen oder deren (Groß-)Eltern vertraut. Das stellt eine große Barriere dar und verstärkt die gesellschaftliche Spaltung. Die Vielfalt unserer Gesellschaft bedeutet eine vielfältige Nachfrage, die wiederum eine vielfältige Produktion erfordert. Notwendig dafür ist eine Vielfalt an musikalischen Fachkräften, die wir auch im Bildungssystem brauchen. Das vorhandene Personal repräsentiert nicht die verschiedenen Kulturen und Musikstile der Schüler*innen.

Es ist entscheidend, dass das Bildungssystem und die Gesellschaft ein tieferes Verständnis von Diversität, Antidiskriminierung, Migrationsgesellschaft sowie (Anti-)Rassismus entwickeln. Es muss eine Zusammenarbeit mit migrantischen Selbstorganisationen geben, vielfältige Sprachkenntnisse sind relevant.

Wir als Musiker*innen, Musiklehrer*innen, Kinder, Eltern und Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft brauchen mutige neue Konzepte. Es ist notwendig, mit Akteur*innen aus allen Bereichen zusammenzuarbeiten und wirklich teilzuhaben.

Transkulturalität als Lösungsansatz

Es gibt große Erwartungen an das Konzept der „Transkulturalität“ als Lösung für all diese Probleme. Der Begriff wurde Anfang der 1990er-Jahre von dem Philosophen Wolfgang Welsch geprägt und seither diskutiert. Im Unterschied zu vorherigen Konzepten wie „Multikulturalität“ oder „Interkulturalität“ wird Transkulturalität als eine Öffnung, Dynamisierung und vielfältige wechselseitige Durchdringung der Kulturen beschrieben. Welsch schreibt in seinem aktuellen Buch „Wir sind schon immer transkulturell gewesen“ (2024):

„Gesellschaften und Kulturen waren schon immer durchdrungen von Austausch und Überlagerung. Transkulturalität ist kein neues Phänomen, sondern ein konstitutives Merkmal menschlicher Geschichte und Entwicklung. Die Künste sind dabei ein besonders anschauliches Beispiel, wie sich Kulturen gegenseitig beeinflussen und bereichern.“

Transkulturalität in der Musik bedeutet, mutige Schritte für die Zukunft auch der klassischen Musik zu gehen. Ein Beispiel dafür ist das Bridges-Kammerorchester aus Frankfurt. In dessen Konzept wird eine Musik beschrieben, die die Ambivalenzen in jedem Menschen und die Überschreitung musikalischer Grenzen thematisiert.

Transkulturelle Musikvermittlung in Schulen

In der Praxis kann transkulturelle Musik nicht nur im professionellen Musikbereich, sondern auch in der Musikpädagogik und Musikvermittlung eine wichtige Rolle spielen. Mehr transkulturelle Musikpädagogik in Schulen bedeutet, Kinder zu unterstützen und zu ermutigen, ihre transkulturellen Identitäten zu gestalten, die weder ausschließlich deutsch noch türkisch, kurdisch, polnisch, arabisch, jüdisch, eritreisch usw. sind. Transkulturelle Musikvermittlung führt zu mehr Verständnis und mehr Möglichkeiten für offene Diskussionen und praktische Arbeit in neuen Konzepten der transkulturellen Musik.

Seit den Fluchtbewegungen im Jahr 2015 sind viele Plattformen und Projekte für transkulturelle Musik entstanden, sowohl in der freien Musikszene (wie das Bridges-Kammerorchester in Frankfurt und das Trickster Orchestra in Berlin) als auch in etablierten Orchestern, wie das Ensemble Colourage der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz und die angeschlossene transkulturelle Akademie. Diese Projekte leisten wertvolle Musikvermittlungsarbeit und transkulturelle Musikpädagogik an Schulen und Hochschulen und haben dafür gesorgt, dass es deutlich mehr Angebote in Schulen gibt, mehr Aus- und Weiterbildungsformate, Workshops und offene Austauschmöglichkeiten. So lassen sich mehr Chancen für alle Musiker*innen schaffen, und das ist entscheidend für die Entwicklung neuer Musikformen.

Perspektiven und Herausforderungen in der transkulturellen Arbeit

Allerdings fehlt in der transkulturellen Arbeit oft die Perspektive der Menschen, die Teil dieser Arbeit sind. Transkulturalität umfasst viele Herausforderungen wie Sprachbarrieren, Kommunikationshindernisse, Sensibilität und Toleranz. In den Diskussionen über Transkulturalität sind Themen wie Diskriminierung, Rassismus, Gerechtigkeit und Toleranz von zentraler Bedeutung. Es hilft uns aber nicht, wenn die Analyse von Transkulturalität nur aus der Perspektive von nicht betroffenen Menschen erfolgt. Bisher wird in den Diskussionen über Transkulturalität dennoch meist über Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen, statt mit ihnen.

Doch laut Sarhan Dhouib ist Transkulturalität „das Ergebnis einer geduldigen und offenen Kommunikation sowie stets kritischen Auseinandersetzung miteinander“ (2016, S. 9), es gehe eben nicht um die Hegemonie eines Diskurses. Nina Stoffers (2019) beschreibt das Transkulturelle mit folgenden Eigenschaften: „Gemeinsamkeiten im Fokus“, „Blick auf Prozesse“, „Etwas Neues entsteht“ und „Konflikthafte Momente werden sichtbar gemacht und sind bewusster Teil des Diskurses“ (S. 55).

Ein weiteres Problem bei den Diskussionen ist, dass „Kultur“ meist noch anhand nationaler Grenzen definiert wird. Diese Idee einer homogenen Kultur stammt aus der Zeit der Erfindung der Nationalstaaten vor über hundert Jahren. In Einwanderungsgesellschaften entstehen verschiedene kulturelle Identitäten, Sprachen, Klänge und Rhythmen. Das Konzept der Transkulturalität verliert seine Bedeutung, wenn wir erwarten, dass alle anderen kulturellen Identitäten den Regeln einer bestimmten Kultur folgen müssen. Ich nenne das „einseitige Integration“. Um Transkulturalität zu verstehen, müssen wir uns daher vom nationalistischen Verständnis von Kultur verabschieden.

Fazit

Kunst und Musik in der Gesellschaft werden sich ohnehin ändern, geprägt von den immer wieder neu dazukommenden Einflüssen. Es liegt an uns, die Zeit zu nutzen, um diesen Prozess nicht zu verzögern, sondern ihn zu beschleunigen. Dafür sind politische und strukturelle Veränderungen notwendig, um Gerechtigkeit und Weiterbildungsmöglichkeiten zu fördern. Kooperationen zwischen Musiker*innen und Institutionen sollten gestärkt und nachhaltige Musikprojekte unterstützt werden. Bildungsprogramme müssen Diversitätskompetenz und Antidiskriminierung vermitteln sowie kulturelle Sensibilität und Sprachkenntnisse fördern. Nicht-klassische Musiker*innen benötigen mehr Raum und Möglichkeiten, während Programme besser auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden und des Publikums abgestimmt werden sollten. Integration und Veränderung sind unvermeidlich und sollten harmonisch verlaufen, um das Potenzial kultureller Vielfalt zu nutzen. Zeitgenössische Musik wird durch interaktive Prozesse entstehen, die globale Geschichten und Erfahrungen widerspiegeln.

Laila Mahmoud ist Musikerin, Musikpädagogin und Musikvermittlerin, spezialisiert auf Kanun, Klavier und Gesang. Sie schloss ihr Musikpädagogikstudium in Syrien ab und studierte an der Popakademie Baden-Württemberg. Laila zog von Syrien über den Libanon nach Deutschland und arbeitet mit renommierten Orchestern wie dem Bridges-Kammerorchester und dem Colourage-Ensemble der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz.