Die Zukunft war früher auch besser
Gerald Mertens
Gerald Mertens hat Jura und Kirchenmusik studiert. Seit 1990 ist er für die unisono Deutsche Musik- und Orchestervereinigung als Jurist und seit 2001 als Geschäftsführer tätig. Mertens ist außerdem Leitender Redakteur der Zeitschrift „das Orchester“, Vorsitzender des Netzwerks Junge Ohren (NJO), Kuratoriumsvorsitzender der Deutschen Orchester-Stiftung sowie Mitglied im Aufsichtsgremium der Verwertungsgesellschaft GVL.
„Die Zukunft war früher auch besser“, so lautet eines der unnachahmlichen Bonmots von Karl Valentin. Wenn ich mich derzeit so umschaue im Kulturbereich, namentlich bei Opern- und Konzerthäusern sowie bei Orchestern, dann ist das mit der Bewertung der Zukunftsaussichten so eine Sache. Nicht dass ich nach fast 25 Jahren an der Spitze desselben Verbandes jetzt einen gesunden Pessimismus entwickelt hätte, eher das Gegenteil. Das Glas ist und bleibt halb voll, mindestens.
Aber die Richtung, die sehr viele (nicht alle) Kulturbetriebe nach dem Abklingen der Coronapandemie eingeschlagen haben, nämlich zurück zum „alten Normal“ (wie auch immer es gefühlt aussah), empfinde ich als problematisch. „Zurück“ war nicht nur in der Kultur schon immer die falsche Richtung. In der juristischen Ausbildung galt in der Anwaltsstation der Lehrsatz: „Streichen Sie als Anwalt das Wort ,zurück‘ aus ihrem Sprachschatz; wenn Sie ein Rechtsmittel zurücknehmen, verlieren Sie Ihren Mandanten.“
Ein Zurück zum alten Normal ist zum Beispiel eine künstlerische Planung mit einem noch straffer angelegten Sicherheitsgurt. Bloß kein Risiko eingehen. Im Konzertprogramm lieber Mozart, Beethoven und Brahms anstelle von Rott, Smyth oder Gourzi? Neue Musik ja, aber bitte nur John Williams? (Nichts gegen seine mitreißenden Filmmusiken!) Totschlagargument: „Das Publikum will das so.“ Oder: „Bei unbekannten Komponisten bleiben die Leute weg.“ In meinem monatlichen Podcast „Klangvoll“ (Vorsicht, Schleichwerbung!) meinte hierzu Konstantia Gourzi, eine der in Deutschland derzeit meistbeschäftigten Komponistinnen: „Das Publikum kann man fantasievoll erziehen, auch wenn man ein neues Werk beibringt. (…) Man muss an die zeitgenössische Musik glauben.“
Das klassische Sandwich-Programm, ein klassisches Werk am Anfang, vor der Pause nach über 100 Jahren immer noch gefühlt „neue“ Musik (Schönberg oder Webern) und dann der romantische Blockbuster (dann hält das Publikum durch und rennt nicht in der Pause weg), ist und bleibt eine dramaturgische Frechheit, ein destruktives Misstrauensvotum gegenüber denjenigen Menschen, die neugierig geblieben sind. Und das sind im kulturaffinen Segment der Gesellschaft eine ganze Menge. Zum Beispiel die Omnivoren, die „kulturellen Allesfresser“, die an Klassik ebenso Gefallen finden wie an Jazz, die gerne Museen, Ausstellungen und Galerien besuchen oder ins Programmkino gehen. Und dann noch die wachsende Zahl der gut ausgebildeten, gut situierten Babyboomer, die in den kommenden Jahren in Rente gehen. Eine der für mich in den vergangenen Jahren verblüffenden Erkenntnisse stammt aus einer Marketingstudie der New Yorker Philharmoniker aus den 2000er-Jahren. Sie ergab, dass neben den rund 40 000 Stammkunden des Orchesters weitere 600 000 Menschen in Greater New York folgender Aussage zugerechnet wurden: „Like classical music, but don’t attend the NY Phil.“ Daraus ergeben sich zwei simple Marketing-Schlussfolgerungen: 1. Vergiss den Rest des Marktes (rund 90 Prozent der Bevölkerung), ihm ist dieses Orchester schlichtweg egal. 2. Konzentriere dich auf das riesige Segment der vorhandenen Klassikliebhaber, die du aber bisher noch nicht erreicht hast. Die Publikumspotenzialanalyse in deutschen Kommunen (welches Theater, Konzerthaus oder Orchester erhebt so etwas überhaupt und womöglich sogar regelmäßig?) könnte vielleicht ähnlich ausfallen wie in New York. Es muss ja nicht gleich das zwölffache Potenzial des bereits vorhandenen Publikums sein; das Doppelte würde ja schon reichen und wäre eine gigantische Option.
Entscheidend ist, sich das Vertrauen der Menschen zu erarbeiten, damit sie ins Konzert kommen, egal was auf dem Programm steht. Unmöglich? Naiv? Nein, es ist machbar. Beat Fehlmann, Intendant der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, hat mit seinem fantastischen Kreativ-Team das Orchester inzwischen zu einem echten Zukunftslabor für die Weiterentwicklung des Orchesterbetriebs in Deutschland gemacht. In Bezug auf das Publikum sind dabei zwei simple Faktoren ausschlaggebend, nämlich „Nähe“ und „Beziehung“. Das Orchester tut alles, um das verstaubte Orchesterimage der 1960er-Jahre (kennt man aus Musikunterrichtsbüchern in der Schule), also „99 fiedelnde Pinguine“, hinter sich zu lassen und nahbarer für das Publikum zu werden. Die Menschen im Publikum kennen und lieben inzwischen „ihre“ Orchestermitglieder.
Am Ende ist es so simpel wie genial: Saisoneröffnung. Man weiß bei den Abonnenten ganz genau, wer auf welchem Platz sitzt. Auf jedem Abonnentenplatz liegt eine Postkarte mit einem kleinen Stück Schokolade und einem persönlichen, handschriftlichen Gruß einzelner Orchestermitglieder: „Liebe Frau X, schön, dass Sie nach der langen Pause wieder bei uns im Konzert sind. Ich wünsche Ihnen eine spannende Konzertsaison! Ihre NN, Solo-Flöte. P. S. Sehen wir uns nach dem Konzert im Foyer?“ Ist das nicht zum Dahinschmelzen, auch ohne Schokolade? Wird man einer so netten Einladung nicht folgen?
Und – noch besser: Wo alle anderen Orchester auf eine fette, optisch mehr oder weniger ansprechende (letzter Schrei: bitte alles nüchtern in Schwarz-Weiß) Saisonbroschüre setzen, gab es in Ludwigshafen zum ersten Mal in der Spielzeit 2023/24 einen kleinen Tagesabreißkalender. Für jeden Tag der Saison entweder ein Konzerthinweis, eine Musikeranekdote, ein Gutschein für den örtlichen Blumenladen, das Kochrezept eines Musikers, ein QR-Code, der zu einer aktuellen Orchesteraufnahme führt – der Kreativität waren keine Grenzen gesetzt. Auch wenn man nur einmal im Monat in ein Konzert der Staatsphilharmonie gegangen ist, so hatte man doch beim Abreißen des Kalenderblattes gefühlt jeden Tag Kontakt mit dem Orchester. Auch das schafft Beziehung. Genial. Und zu Recht preisgekrönt. Kein Wunder also, wenn sich die Zahl der Abonnements im Vergleich zu Vor-Corona mehr als verdoppelt hat. Und nach dem Grundsatz „Einmal ist keinmal, zweimal ist Tradition“ gibt es in Ludwigshafen auch für die Spielzeit 2024/25 wieder einen Abreißkalender.
Es muss einem also um die Zukunft der Kultur, von Theatern und Orchestern eigentlich nicht bange sein. Jedenfalls nicht wegen eines zu geringen Nachfragepotenzials, eher wegen noch nicht optimierter Angebote. Was vermehrt Schwierigkeiten bereitet, ist die qualifizierte Besetzung von Leitungspositionen in allen Kulturbetrieben mit Menschen, die sowohl Kreativpotenzial als auch echte Führungsqualitäten mitbringen. Die größte Herausforderung im überwiegend öffentlich finanzierten Kulturbetrieb in Deutschland aber bleibt das Problem der schwindenden Kulturaffinität von Entscheidern in der öffentlichen Verwaltung und in den Parlamenten, vor allem auf Kommunal- und Landesebene. Kürzlich musste ich einem Landrat in Norddeutschland am Beispiel der Freiwilligen Feuerwehr und der örtlichen Fußballmannschaft erklären, warum ein kleines Sinfonieorchester auch für seine Kommune eine wichtige Bedeutung hat. Seufz. Hier entsteht wachsender Beratungs- und Lobbybedarf.
Gerald Mertens hat Jura und Kirchenmusik studiert. Seit 1990 ist er für die unisono Deutsche Musik- und Orchestervereinigung als Jurist und seit 2001 als Geschäftsführer tätig. Mertens ist außerdem Leitender Redakteur der Zeitschrift „das Orchester“, Vorsitzender des Netzwerks Junge Ohren (NJO), Kuratoriumsvorsitzender der Deutschen Orchester-Stiftung sowie Mitglied im Aufsichtsgremium der Verwertungsgesellschaft GVL.