Keine Zukunft ohne Tradition
Jan Nast
Jan Nast ist seit 2019 Intendant der Wiener Symphoniker. Er hat zahlreiche neue Formate wie das Prater-Picknick, den Wiener Advent und ein Konzertfestival in Triest ins Leben gerufen und Petr Popelka als Chefdirigenten geholt. Zuvor war Nast 22 Jahre lang Orchesterdirektor der Sächsischen Staatskapelle Dresden und arbeitete mit Giuseppe Sinopoli und Christian Thielemann als Chefdirigenten zusammen. Nast wurde 1965 in Ost-Berlin geboren, studierte Horn an der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler und bis 1995 Kulturmanagement in Ludwigsburg.
Man kann das Musikmachen als eine Art Zeitmaschine verstehen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander korrespondieren. Wir interpretieren Partituren, die oft vor langer Zeit entstanden sind, für unser Heute – jedes Konzert ist eine Befragung der Vergangenheit mit dem Wissen der Gegenwart. Und als Intendant ist es für mich die Aufgabe, in diesem Prozess immer auch das Publikum der Zukunft vor Augen zu haben. Im Laufe meiner Arbeit – besonders bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden und nun bei den Wiener Symphonikern – habe ich gelernt, dass das Bewusstsein einer großen Tradition die vielleicht beste Basis für einen mutigen Blick auf die Zukunft ist. Mit einer großen Vergangenheit ist das, was kommt, viel leichter zu gestalten.
Die Staatskapelle Dresden ist eines der ältesten Orchester überhaupt. Sie wurde 1548 gegründet und saugt seither Musikgeschichte auf: Heinrich Schütz, Carl Maria von Weber, Richard Wagner, Herbert Blomstedt oder Christian Thielemann haben das Orchester geleitet und bilden eine durchaus heterogene musikalische Traditionslinie. Eine Linie mit vielen historischen und ästhetischen Brüchen. Die Geschichte der Staatskapelle ist von Revolutionen, Umstürzen, Diktaturen und Befreiungsbewegungen geprägt – all diese Strömungen sind in ihren Soundtrack eingeflossen. All diese Ereignisse werden ihren Klang auch in Zukunft mitschwingen. Es wäre fatal, das nicht zu berücksichtigen!
Die „Wunderharfe“, wie Richard Wagner das Orchester genannt hat, war sich stets seiner Klangtradition bewusst, hat aber immer begriffen, dass die Musik auch eine Zukunft braucht. Eine Erkenntnis, die kaum ein anderer Musiker so kompromisslos gelebt hat wie Richard Wagner selbst. Seine Kompositionen wären ohne das Wissen um Johann Sebastian Bach oder Ludwig van Beethoven sicherlich unmöglich, gleichzeitig aber hat Wagner mit seinen radikalen Visionen über die Musik der Zukunft nicht nur das Genre Oper auf den Kopf gestellt, sondern unsere ganze Auffassung von Theater: In Bayreuth hat er das Orchester unter der Bühne positioniert, das Saallicht löschen lassen – alles sollte der Musik unterworfen sein. Das war damals revolutionär.
Für mich persönlich liegt genau in diesem Spagat die Größe der Musik: Das Bewusstsein um die Vergangenheit, das wir gern Tradition nennen, auf der einen Seite. Auf der anderen die Innovationskraft, mit der die Fackel der klassischen Musik seit Hunderten von Jahren von Generation zu Generation weitergetragen wird. Jeder, der über die Gestaltung der Zukunft nachdenkt, sollte über das nachdenken, was diese beiden Enden des Zeitstrahls miteinander verbindet.
In Dresden haben wir diesen Spagat bewusst gewagt: auf der einen Seite die Klangpflege durch einen Dirigenten wie Christian Thielemann, auf der anderen Seite haben wir als Orchester versucht, neue und innovative Formate zu entwickeln. Unsere großen Open Airs vor der Semperoper haben Zehntausende (oft sehr junge) Menschen in direkten Kontakt mit unserer Kunst gebracht, Kammermusikensembles der Staatskapelle haben regelmäßig unter dem Motto „Ohne Frack auf Tour“ in den Kneipen der Dresdner Neustadt gespielt. Und natürlich hat die Staatskapelle auch die Medien der Zukunft genutzt, um die Musik in der Gesellschaft lebendig zu halten. In Kooperationen mit dem ZDF, mit Arte, aber auch mit dem MDR und privaten Unternehmen wie Unitel war das Orchester regelmäßig in den Wohnzimmern der Menschen zu Gast, beim Jahreswechsel ebenso wie in den Adventstagen oder zu großen Aufführungen bei den Salzburger Osterfestspielen.
Auch die Wiener Symphoniker sind ein Orchester mit einer spannenden und großen Tradition: Sie waren das unangefochtene Uraufführungsorchester der vorvergangenen Jahrhundertwende, Experten für Gustav Mahler oder Arnold Schönberg. Und bereits vor 125 Jahren haben die Gründungsväter des Orchesters einen innovativen Gedanken geprägt. Sie wollten Musik mit höchstem Anspruch für alle Menschen anbieten – zu günstigen Preisen. Genau dieser innovative und zukunftsweisende Gründungsgedanke inspiriert uns in Wien auch noch heute, unsere Zukunft zu gestalten.
Hier geht es ebenfalls darum, neben den einmaligen Live – Konzerterlebnissen im Wiener Konzerthaus und im Musikverein oder auf den weltweiten Tourneen des Orchesters möglichst nahe am Publikum der Zukunft zu sein. Dafür haben wir eine intensive Jugendarbeit aufgebaut und den Preis „Wiener Symphoniker – Talent“ für Nachwuchsmusikerinnen und – musiker ins Leben gerufen. Auch hier sucht das Orchester bei Grätzl – oder Beisl – Konzerten Hautkontakt mit einem neuen Publikum. In der Coronazeit haben wir mit den Wohnzimmer – Konzerten ein digitales Format erfunden, indem wir auch mit unserem Programm auf die Vorlieben des Online – Publikums eingegangen sind: Wir haben einzelne Sätze von ausgefallenen Konzerten gespielt, unsere Musikerinnen und Musiker in kurzen persönlichen Gesprächen vorgestellt und Dirigentinnen und Dirigenten eine Auftrittsmöglichkeit gegeben, die anschließend Karriere gemacht haben – neben Oksana Lyniv und Omer Meir Wellber waren auch Patrick Hahn, Marie Jacquot oder Giedrė Šlekytė dabei. Zukunft gestalten heißt in diesem Sinne eben auch, neue Formate zu erfinden, die eine zeitlose Aussage in unsere Zeit transportieren.
Auch bei der Ernennung unseres Chefdirigenten Petr Popelka war seine dezidierte Vorstellung darüber entscheidend, wie ein Orchester der Zukunft aussehen soll. Für Popelka ist es ein Orchester, das mit all seinen Musikerinnen und Musikern jeden Abend weiß, warum es welches Programm spielt. Ein Orchester, das die Menschen mit seiner Leidenschaft und seiner Qualität berührt. Ein Orchester, das durch seine Vielfalt jeden anspricht: Kinder ebenso wie Klassik – Laien oder Musikexperten. Ein Orchester, das durch die Qualität seiner Musik begeistert, durch seine Genauigkeit und Durchhörbarkeit. Ein Orchester, in dem die Rolle eines jeden hörbar wird, in dem jede einzelne Stimme wichtig ist. Ein Orchester, in dem sich jede und jeder mitgenommen fühlt. Und gerade weil klassische Musik gegenwärtig an vielen Orten zur Debatte steht, ist es umso wichtiger, dass ein Orchester, das traditionell so tief in seiner Stadt verankert ist wie die Wiener Symphoniker, auf all diesen Ebenen eine Vorreiterrolle übernimmt.
Wenn es also darum geht, die Zukunft zu gestalten, kann die Musik als ideales Vorbild dienen. Das Brückenbauen und der Dialog zwischen den Zeiten gehören für uns Musikerinnen und Musiker selbstverständlich zur DNA, ebenso wie das Wissen darum, dass die Zukunft stets die Fortsetzung der Vergangenheit mit kreativen Mitteln ist.
Jan Nast ist seit 2019 Intendant der Wiener Symphoniker. Er hat zahlreiche neue Formate wie das Prater-Picknick, den Wiener Advent und ein Konzertfestival in Triest ins Leben gerufen und Petr Popelka als Chefdirigenten geholt. Zuvor war Nast 22 Jahre lang Orchesterdirektor der Sächsischen Staatskapelle Dresden und arbeitete mit Giuseppe Sinopoli und Christian Thielemann als Chefdirigenten zusammen. Nast wurde 1965 in Ost-Berlin geboren, studierte Horn an der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler und bis 1995 Kulturmanagement in Ludwigsburg.