Zirkus – Eine lange Geschichte für die Zukunft

Jenny Patschovsky

Jenny Patschovsky, Zirkus-Dramaturgin, Kunstwissenschaftlerin und Luftartistin, setzt sich seit 20 Jahren für den Zeitgenössischen Zirkus in Deutschland ein. Sie ist Mitgründerin und Vorsitzende des BUZZ Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus e. V., Redakteurin des Magazins „VOICES“ und Mitarbeiterin im Projektbüro Neuer Zirkus Ruhr.

Wenn von Kunst als einem Vehikel für Verständigung gesprochen wird, wird selten an den Zirkus gedacht. Dabei verfügt gerade er über besondere Stärken. Zirkus ist Staunen und Mitfiebern. Er schafft eine emotionale Nähe und öffnet für die Begegnung mit dem Fremden. Im Zirkus geschieht alles in Echtzeit, im Hier und Jetzt. Die im Zirkus existierende Gefahr, das Risiko und das hohe Maß an Realität, das in den Körperaktionen steckt, erzeugen ein unmittelbares Gefühl beim Publikum. In diesem physischen Miteinander werden kollektive Erfahrungen gebildet, und das für sämtliche Bevölkerungsgruppen und über alle Altersstufen hinweg. Das Zirkusmachen wiederum stärkt die Körperwahrnehmung und trägt dazu bei, Körperklischees abzubauen. Die Vielfalt von Herkünften und Sprachen prägt den Zirkus ebenso wie Vertrauen und Miteinander. Und der Zirkus ist seit jeher interdisziplinär: Seit über 250 Jahren kommen hier die unterschiedlichsten Kunstformen zusammen.

All das bewog die deutsche Unesco-Kommission, den Zirkus im März 2023 in die Liste des immateriellen Kulturerbes aufzunehmen. Die Aufnahme bezieht sich auf alle Formen von Zirkus, die in Deutschland nebeneinander existieren und ihr Publikum finden. Der Neue bzw. Zeitgenössische Zirkus, der sich als „Nouveau Cirque“ in Frankreich in den späten 1970er-Jahren entwickelt hat, ist eine davon. Obgleich schon vor 25 Jahren zeitgenössische Zirkusstücke aus Frankreich an wenigen Spielorten in Deutschland gastierten, kann sich diese Zirkusform erst seit etwa zehn Jahren auch hierzulande etablieren: Es wächst die Zahl der Zirkus-Festivals, der großen deutschen Zirkus-Eigenproduktionen und einzelner Förderprogramme. Ein eigener Bundesverband entsteht, und in Nordrhein-Westfalen wird der Neue Zirkus Teil der Programmschiene Neue Künste Ruhr.¹

Diese junge Interpretation von Zirkus versteht den Trick nicht als Selbstzweck, sondern nutzt die Artistik als Ausdrucksmittel, um Inhalte zu transportieren. Die Zirkustechniken (Akrobatik, Objektmanipulation, Balance, Luftartistik, Clownerie) sind über choreografische oder theatrale Dramaturgien miteinander verwoben und sprechen mal politische Themen, mal abstrakt-ästhetische Fragen an. Sie sind experimentell, gesellschaftskritisch oder unterhaltsam – oder all das auf einmal. Im Zentrum der Stücke stehen die ständige Recherche und die Erforschung der eigenen Form. Die Kontrolle über das Objekt, die Partizipation des Publikums, der Aufführungsort sowie Geschlechterrollen und Körperbilder werden im Zeitgenössischen Zirkus neu bewertet. Zu den Spielorten zählen nicht nur Theaterbühnen, sondern auch Museen, leere Fabrikhallen oder der öffentliche Raum. Die Architekturen treten dabei selbst in den Fokus: Über die Mittel der Wurf- oder Partnerakrobatik, der Luftartistik oder der Jonglage können Räume auch in der Vertikalen bespielt und für die Zuschauenden erfahrbar gemacht werden.

Der Zeitgenössische Zirkus hat das Potenzial, ein kulturfernes Publikum zu erreichen und gleichzeitig gesellschaftlich relevante Themen zu transportieren. Durch seine visuelle, teilweise spektakuläre Ansprache ist er zugänglich auch für jene Publika, die sich weniger für das klassische Theater mit seiner hochkulturellen Codierung interessieren. Die starke Körperlichkeit, die in den Zirkusdisziplinen steckt, beleuchtet Aspekte der menschlichen Existenz, die leicht verständlich sind: Themen wie Zusammenarbeit, Vertrauen und Verantwortung für andere sind in Partnerakrobatik oder Luftartistik lesbar und eröffnen ein Spielfeld für Metaphern von Sicherheit und Freiheit. Bei der Jonglage und Objektmanipulation geht es heute weniger um die perfekte Kontrolle über die Requisiten als vielmehr um einen wertschätzenden Dialog zwischen Artist:in und Objekt. Darüber werden die Eigenschaften von Objekten erlebbar gemacht und zugleich Achtsamkeit und ein respektvoller Umgang mit unbelebten Dingen inszeniert – als wichtige Voraussetzung für die Achtung unserer Umwelt und nachhaltiges Handeln.

Der Zeitgenössische Zirkus kann ein wichtiger Impulsgeber für den Kultursektor der Zukunft sein. Denn er steht für Mut und Miteinander und schafft eine neue Nähe zur Kultur, die gerade jetzt gebraucht wird: um Diskussionsräume zu öffnen, sich auseinanderzusetzen und auch, um in einer diversen Gemeinschaft Freude und Leichtigkeit zu erleben.


1   Nichtsdestotrotz mangelt es dem Zeitgenössischen Zirkus vielerorts an Anerkennung und einem gleichberechtigten Zugang zu öffentlichen Förderstrukturen. Als Teil der sogenannten Freien Szene ist er zudem stark bedroht durch anstehende Kürzungen im Kulturbereich.

Jenny Patschovsky, Zirkus-Dramaturgin, Kunstwissenschaftlerin und Luftartistin, setzt sich seit 20 Jahren für den Zeitgenössischen Zirkus in Deutschland ein. Sie ist Mitgründerin und Vorsitzende des BUZZ Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus e. V., Redakteurin des Magazins „VOICES“ und Mitarbeiterin im Projektbüro Neuer Zirkus Ruhr.