Eine ungehaltene Rede

Esther Roth

Esther Roth ist seit 2016 Leiterin der Kulturförderung und seit 2021 Leiterin des Amtes für Kultur des Kantons Basel-Landschaft. Sie präsidierte die Vereinigung KünstlerInnen, Theater und VeranstalterInnen Schweiz (heute t. Theaterschaffen Schweiz) sowie die Schweizerische Interpretenstiftung. Sie hat Kulturmanagement studiert, war freischaffende Kulturmanagerin und arbeitete in diversen Kulturinstitutionen.

Als ich 25 Jahre alt wurde, habe ich eine fette Party geschmissen und keine Festschrift verfasst. Aber offensichtlich machen junge Erwachsene das heute so. Man lässt sich eine Festschrift schreiben … Ich denke mir daher, eine wohlerzogene 25-Jährige mit Festschrift kann eine wütende Rede zum Zustand der Kulturförderung ganz gut vertragen.

Seit der Pandemie bin ich latent wütend. Nichts täuscht darüber hinweg, dass wir den Boden unter den Förderfüßen verloren haben. Für wen machen wir das hier eigentlich? Warum sind wir an so vielen Punkten schon wieder da, wo wir vor Corona waren? Hatten wir uns nicht vorgenommen, nun endlich etwas zu ändern? Die Förderung anzupassen, Missstände zu beheben und von all dem sichtbar gewordenen Guten zu lernen?

Meine oberste Priorität ist es geworden, an einer „kulturellen Grundversorgung“ zu arbeiten, die diesen Namen verdient. In der kulturpolitischen Debatte störte man sich in den vergangenen Jahren am Begriff „kulturelle Grundversorgung“. Man hatte Angst, er könnte Sparpolitiker auf dumme Gedanken bringen. Verehrer der Schuldenbremse könnten auf die Idee kommen, dass eine kulturelle Minimalversorgung ausreichend sei angesichts drohender staatlicher Defizite.

Stattdessen spricht man heute lieber von „kultureller Infrastruktur». Das ist aber auch nicht besser, im Gegenteil: „Kulturelle Infrastruktur“ legt eine unfassbar passive Haltung offen, die an kulturpolitischer Verantwortungs- und Lustlosigkeit schwer zu übertreffen ist. Als würden Infrastrukturen reichen, damit die Kultur eine Wirkung entfalten kann. Nur weil das Kellertheater mit funktionierender Bühne und Beleuchtung im Dorf noch in Betrieb ist, heißt das noch lange nicht, dass Menschen, die dort leben, ausreichend Zugang zu Kultur haben.

Fast überall, wo nicht (Stadt-)Zentrum ist, haben wir der Zentralisierung längst widerstandslos Folge geleistet. Spitäler, Bäckereien, Läden, Haltestellen, Postämter werden immer weniger und weniger. Ähnliches gilt für die Kultur. Vereine, kleine Festivals, Pubs, Konzertclubs, Kleintheater, Kinos: Außerhalb der überversorgten Zentren sind sie ausgedünnt, geschwächt, marginalisiert. Geblieben sind unterbetreute, unterversorgte und zu Recht frustrierte strukturschwache Regionen, in denen ein paar (kulturelle) Widerständlerinnen etwas Gutes für die Gesellschaft zu erreichen versuchen. All die ehrenamtlichen Vereinsmitglieder, die kleinen agilen Institutionen, die gelebte Nachbarschaft in den Dörfern haben während der Pandemie die Gemeinschaft zusammengehalten, während sich die großen Kulturtanker und Leistungserbringer erst mal mit sich selber beschäftigt haben.

Die Vereinzelung nimmt zu und die Solidarität zwischen den Menschen ab. Die meisten interessieren sich dafür, was der Algorithmus im eigenen Feed gerade hochspült und was in der eigenen Blase ohnehin schon gut ankommt. Und obwohl in der Gesundheitskrise sehr viele zusammengehalten haben, wird das Kriterium, „immer schon hier gewesen zu sein“, bereits wieder zu einem relevanten Maßstab für ein legitimes Engagement für die Gesellschaft. Alle anderen – die Fremden – dürfen nicht. Sonst bleiben sie noch.

Dazu kommt die Medienkrise. Sie bewirkt, dass kulturelle Angebote außerhalb der Blase fast nicht mehr sichtbar werden. Die journalistische Öffentlichkeit fehlt, weil Hass klickt, Kultur aber nicht. Weil Verlage den Strukturwandel verschlafen haben und ihre Werbeflächen nicht mehr verkaufen. Jetzt können sie ihre Journalistinnen nicht mehr zahlen und lösen Fach- und Lokalredaktionen auf. Abgebildet wird das Große, das Einfache – das, was in der Nähe der Redaktion geschieht oder von PR-Verantwortlichen mundgerecht geliefert wird. Übrig schreibt, wer resilient genug ist, um diese Rahmenbedingen auszuhalten – oder wer nicht mehr abspringen und sich beruflich verändern kann. So sehen wir schlecht bezahlte und überlastete Kulturjournalistinnen, die an immer weniger Veranstaltungen teilnehmen. Und wenn doch, schreiben sie mit Frust im Bauch die Wut ins Blatt. Das Resultat ist oft wenig verdaut und entsprechend schwer verdaulich. Ich verstehe sie. Alle Kulturförderer verstehen sie. Also denken wir immer lauter über Medienförderung nach.

Fun Fact: Das Geld fließt, aber die Werbung läuft jetzt auf Kanälen, die keine Lust haben müssen, Kreativität und Kompetenz abzugelten. Jahrzehntelang hat sich die Politik geweigert, internationale Konzerne zu regulieren und Spotify, Google, Youtube oder TikTok für die kreative Arbeit zahlen zu lassen. Und nun versuchen wir, mit Kulturfördermitteln die Löcher zu stopfen. Es sind aber keine Löcher, es ist ein reißender Abfluss, die Schleusen sind offen.

Vom freien Kulturschaffen kann man kaum leben, unter anderem, weil viele kreative Leistungen nicht mehr vergütet werden. Aber, sind wir ehrlich, auch weil wir ohne Unterlass professionelle Kulturschaffende ausbilden, die kein Markt aufnehmen und keine Kulturförderung finanzieren kann. Das ist auch nicht ihre Aufgabe. Gleichzeitig verweigern wir eine Diskussion darüber, ob man nicht vielleicht doch von erfolgreichem Kulturschaffen leben können müsste. Zu groß ist die Angst, über die Qualität künstlerischen Schaffens diskutieren zu müssen. Eine Diskussion, die wir seit jeher vermeiden, wenn es irgendwie geht. Als wäre die Professionalität beschränkt auf die Qualität des künstlerischen Ergebnisses. Als hätten freie Kulturschaffende keine Eigenverantwortung. Als würden Richtgagen nur erarbeitet, um Institutionen in die Pflicht zu nehmen, während Kulturschaffende ihren eigenen Markt weiterhin aus fehlgeleiteter intrinsischer Motivation mit Dumpingpreisen sabotieren. Als könnte man ausgebildete Kulturschaffende nicht verpflichten, ihr Gewerbe, ihr Kulturschaffen, ihren Lebensunterhalt und ihr Alter gleichermaßen ernst zu nehmen.

Doch aktuell lautet das Motto: Die Kulturszenen senden ohne Unterbruch, das muss reichen. Ob da irgendein Empfänger steht, ist egal. Der kulturelle Fußabdruck ist bei so vielen Angeboten einfach nicht mehr groß genug.

Wir müssten doch einen radikalen Anspruch an die Kultur stellen: dass sie sich in Zeiten multipler gesellschaftlicher Krisen auf ihr Potenzial und ihre Wirkung auf die Bevölkerung konzentriert. Von dieser wird sie maßgeblich finanziert, also ist sie auch für sie zuständig. Kultur soll Menschen durch Krisen begleiten, ermutigen und stärken – und im besten Fall nachhaltig zusammenbringen. Auch wenn wir uns die komplette Freiheit der Kunst erhalten möchten, in der jedes Werk zweckfrei entstehen soll – gute Kunst kann die Gesellschaft zum Besseren verändern. Warum hätten wir sie sonst um jeden Preis durch die Krise retten sollen?

Auch die Wirtschaft retteten wir mehrmals unter der Prämisse, dass sie für die Gesellschaft Verantwortung übernehme. Seit der Finanzkrise, der Credit-Suisse-Rettung und den Diskussionen über exzessive Bonuszahlungen sind zumindest Zweifel angebracht, ob sie es noch hinreichend tut. Solange wir weiterhin global tätige Firmen schamlos unsere direkte Demokratie durchlobbyieren lassen und sie dazu steuerbeschenken, ist eine üppige staatliche Kulturförderung total in Ordnung, auch wenn sie sich mancherorts aus lauter Hilflosigkeit langsam zu einem Grundeinkommen entwickelt.

Aber eine nachhaltige Lösung ist das nicht.

Ob ich eine Lösung habe? Nein. Noch nicht. Wenn man aber sieht, in welchem Tempo wir während der Coronapandemie Lösungen finden mussten und konnten, würde ich die komplexe Gemengelage am liebsten als kulturpolitische Pandemie deklarieren. Dies würde ermöglichen, das Tempo wieder massiv zu erhöhen und die Kommunikation aller Kulturakteurinnen erneut grundlegend zu ändern. Wir würden uns weder für Hierarchien noch für Rollen interessieren, sondern könnten uns in einer erstaunlichen Häufigkeit austauschen und unsere Zahlen, Fragen, Erkenntnisse und Erfahrungen transparent teilen. Wir würden uns gegenseitig unsere Grundlagen zur Verfügung stellen, damit niemand unnötig Zeit verschwendet. Niemand müsste sonderlich originell sein. Alle Kulturakteurinnen würden nur die Pandemie überstehen und die komplexen Probleme wirklich lösen wollen.

Esther Roth ist seit 2016 Leiterin der Kulturförderung und seit 2021 Leiterin des Amtes für Kultur des Kantons Basel-Landschaft. Sie präsidierte die Vereinigung KünstlerInnen, Theater und VeranstalterInnen Schweiz (heute t. Theaterschaffen Schweiz) sowie die Schweizerische Interpretenstiftung. Sie hat Kulturmanagement studiert, war freischaffende Kulturmanagerin und arbeitete in diversen Kulturinstitutionen.