Die Zukunft der klassischen Musik: Ein Balanceakt zwischen Tradition und Innovation
Philipp Stein
Philipp Stein wurde in Tübingen geboren. Er studierte in Hamburg und Wien und arbeitete in Wien und Schwerin und bei der Elbphilharmonie. Nach der Eröffnung des Konzerthauses zog es den Bergbegeisterten zurück in den Süden – nach Grafenegg. Seit 2024 ist er bei der Künstleragentur Raab & Böhm in Wien.
Vor 25 Jahren fragte mich ein Kollege, der wie ich als Skilehrer sein Studium finanzierte, was ich eigentlich im Sommer mache. „Irgendwas mit klassischer Musik“, antwortete ich damals, ohne zu ahnen, dass dieser vage Plan meine Zukunft bestimmen würde. Heute, ein Vierteljahrhundert später, stehe ich immer noch mitten im Spannungsfeld zwischen Bewahrung und Innovation – zwei Kräfte, die die Zukunft unserer Branche maßgeblich prägen.
Klassische Musik hat etwas Zeitloses an sich, eine Faszination, die Generationen überdauert. Doch gerade diese Zeitlosigkeit birgt auch eine Gefahr: die Verführung, alles so zu belassen, wie es immer war. Schon 1930 warnte der Wiener Musikmanager Hugo Knepler in seinem Buch „O diese Künstler“ davor, dass das Publikum für klassische Musik ausstirbt. Fast ein Jahrhundert später lässt sich zwar beobachten, dass das Publikum nicht unbedingt studentisch geprägt ist, aber ausgestorben ist es wirklich nicht. Im Gegenteil an vielen Stellen steigen die Abonnentenzahlen, wie die Deutsche Musik- und Orchestervereinigung immer wieder stolz aufzeigt. Freilich es gibt auch Beispiele, wo das Publikum ausbleibt und das Programm niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken kann. Ist das ein Grund zur Sorge? Vielleicht. Oder vielleicht ist es ein Zeichen dafür, dass wir uns einfach anpassen müssen und auch einmal etwas Neues wagen sollten.
In den letzten 25 Jahren habe ich viele Ansätze erlebt, wie Kulturinstitutionen auf die Herausforderungen der Zukunft reagieren. Als Künstleragentur sehen wir uns in einer Mittlerrolle: Wir vermitteln zwischen den Künstler:innen und den Veranstalter:innen, zwischen dem kreativen Schaffen und dem öffentlichen Raum. Dabei fällt auf, wie unterschiedlich die Akteur:innen auf die Zukunft blicken. Es gibt diejenigen, die Angst vor jeder Veränderung haben, die sich verzweifelt an das Altbewährte klammern und dabei zusehen, wie ihre Besucherzahlen Jahr für Jahr sinken. Und dann gibt es die Pionier:innen, die mutig nach vorne stürmen und ihre Häuser für Neues öffnen, auch wenn das Risiko besteht, dass sie dabei ihre Marke verändern. Diese Innovationsfreude ist nicht nur inspirierend, sondern auch notwendig, wenn wir eine lebendige Zukunft für die klassische Musik gestalten wollen.
Doch die Zukunft lässt sich nicht allein durch Mut und Innovationsgeist sichern. Es gibt drängende Themen, die wir als Branche angehen müssen: Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Diversität. Wenn ich Kolleg:innen aus anderen Branchen erzähle, wie weit wir bei diesen Themen noch zurückliegen, ernte ich oft ungläubige Blicke. Es ist erschreckend, wie spät wir begonnen haben, uns ernsthaft Gedanken darüber zu machen, wie wir unsere Branche zukunftsfähig machen können. Der ökologische Fußabdruck einer Orchestertournee, die umständliche und oft frustrierende Erfahrung, eine einzelne Konzertkarte online zu kaufen, und die Frage, wie wir mehr Diversität in den Konzertbetrieb bringen können – all das sind Herausforderungen, die wir nicht länger ignorieren dürfen.
Besonders die Suche nach mehr Diversität in der klassischen Musik erfordert neue Denkansätze. Wo sollen die Barockkomponisten herkommen, die nicht mit Kirche oder Adel assoziiert sind? Diese Frage klingt provokant, aber sie verdeutlicht ein tieferes Problem: Die Geschichte der klassischen Musik ist tief in bestimmten sozialen Strukturen verwurzelt, und das macht es schwer, neue Stimmen und Perspektiven zu integrieren. Doch genau hier liegt die Chance für die Zukunft: Wenn wir es schaffen, die klassische Musik für ein breiteres und vielfältigeres Publikum zugänglich zu machen, können wir ihr neues Leben einhauchen.
Natürlich geht es bei all diesen Veränderungen nicht nur um Äußerlichkeiten wie Transport, Ticketing oder Architektur. Am Ende zählt der Inhalt. Die Künstler:innen, die wir vertreten, suchen selbst nach Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit. Sie nutzen ihr Wissen über Repertoire und Inhalte, um Programme zu entwickeln, die aktuelle Themen aufgreifen und dabei nicht nur Fragen stellen, sondern auch Antworten bieten. Unsere Hoffnung ist es, dass wir mit diesen innovativen Programmideen Veranstalter:innen überzeugen können, damit wir mit diesen Tourneen in möglichst viele Städte kommen. Doch oft scheitern wir an der Vorsicht und Zurückhaltung der Kulturbetriebe, die lieber auf das Altbewährte setzen, als sich auf das Abenteuer des Neuen einzulassen. Wie schade. Mehr Mut wäre wünschenswert – und nötig.
Die Zukunft der klassischen Musik wird ein Balanceakt zwischen Bewahrung und Innovation sein. Es wird nicht einfach sein, diese beiden Kräfte in Einklang zu bringen, aber es ist notwendig, wenn wir die klassische Musik nicht nur erhalten, sondern auch weiterentwickeln wollen. Die Herausforderungen sind groß, aber die Chancen sind es auch. Wenn wir bereit sind, mutig neue Wege zu gehen und uns den Fragen unserer Zeit zu stellen, dann haben wir die Möglichkeit, eine Zukunft zu gestalten, in der klassische Musik weiterhin eine wichtige Rolle spielt – nicht nur als Relikt der Vergangenheit, sondern als lebendige, sich ständig weiterentwickelnde Kunstform.
In der klassischen Musik geht es immer darum, die richtige Balance zu finden: zwischen Tradition und Innovation, zwischen Bewahrung und Fortschritt. Die Zukunft dieser Kunstform wird von denen gestaltet, die den Mut haben, beides zu vereinen. Denn die Zukunft gehört nicht denen, die stehen bleiben, sondern denen, die den Mut haben, voranzugehen und Neues zu wagen. Die Zukunft, die wir gestalten, ist die, die bleibt.
Philipp Stein wurde in Tübingen geboren. Er studierte in Hamburg und Wien und arbeitete in Wien und Schwerin und bei der Elbphilharmonie. Nach der Eröffnung des Konzerthauses zog es den Bergbegeisterten zurück in den Süden – nach Grafenegg. Seit 2024 ist er bei der Künstleragentur Raab & Böhm in Wien.