Haben Ost- und Westdeutschland eine gemeinsame Zukunft?
Karin von Welck
Karin von Welck studierte in Hamburg und Köln Germanistik, Politische Wissenschaften, Linguistik und Ethnologie. Sie schloss ihr Studium mit einer Dissertation über die Pueblo-Indianer ab. Es folgten Museumsstationen in Köln und Mannheim sowie Lehraufträge an den dortigen Universitäten. 1994 wurde sie zur Honorarprofessorin der Universität Mannheim ernannt. 1998 übernahm sie das Amt der Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder. Von März 2004 bis August 2010 war sie Senatorin für Kultur der Freien und Hansestadt Hamburg, ab Mai 2008 auch für Sport und Medien. 2003 wurde sie Präsidiumsmitglied im Deutschen Evangelischen Kirchentag und war 2009 Präsidentin des Kirchentags in Bremen. Seit 2012 ist sie Domherrin der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz und war von 2018 bis 2024 Dechantin des Domkapitels.
„Die Zukunft hat viele Namen. Für die Schwachen ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen ist sie das Unbekannte. Für die Tapferen ist sie die Chance.“ Dieses berühmte Zitat von Victor Hugo kreist in meinem Kopf, wenn ich an das Verhältnis von Ost- und Westdeutschland im Jahr 2024 denke.
Vielen von uns fällt in diesem Zusammenhang zunächst die Landkarte Deutschlands nach den Wahlen zum Europaparlament ein: Im Osten war die AfD in allen Bundesländern der eindeutige Wahlgewinner und bekam fast überall über 30 Prozent der Stimmen, im Westen lagen CDU und CSU vorne, mit einigen Einbrüchen in den Großstädten wie Berlin und Hamburg, in denen die Grünen gewannen und Bremen, wo die SPD als Sieger hervorging. Insgesamt gewann in Deutschland die CDU/CSU mit 30 Prozent. An zweiter Stelle lag die AfD, die insgesamt 15,9 Prozent der Stimmen erreichte. Die Deutschlandkarte zeigte ein gespaltenes Land.
Das Ergebnis war für mich nicht völlig unerwartet, denn nach zwölf Jahren als Domherrin und später Dechantin der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz konnte ich viele Gespräche mit Menschen aus Sachsen-Anhalt führen, habe in Naumburg die Montagsdemonstrationen in der Zeit der Coronapandemie „gegen die Impf-Diktatur“ miterlebt und meine Euphorie über die Wiedervereinigung Deutschlands aus dem Jahr 1989 und die damit verbundene Hoffnung auf eine schnelle, glückliche deutsch-deutsche Zukunft gründlich revidieren müssen.
Noch in der Zeit von Oktober 1998 bis März 2004, in denen ich als Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder sehr intensiv die damals „Neuen Länder“ besuchte, war ich überzeugt, dass Ost- und Westdeutschland relativ schnell zusammenwachsen würden, und war beeindruckt, wie engagiert die verantwortlichen Politiker in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen daran arbeiteten, die vernachlässigte Infrastruktur, die marode Bausubstanz und die nicht auskömmlich finanzierte Kulturszene wiederaufzubauen und das durch die DDR-Diktatur geprägte politische Leben zu verändern. Oft waren meine damaligen Gesprächspartner in protestantischen Pfarrhäusern aufgewachsen oder hatten in der DDR im kirchlichen Umfeld gearbeitet, bevor sie, nicht zuletzt durch ihren Einsatz bei der Vorbereitung und Durchführung der „Samtenen Revolution“ 1989, zu Politikern geworden waren. Die jüngere Generation ergriff die neuen Chancen, die sich ihr nach 1989 boten: Sie studierte im Ausland, reiste durch das Europa ohne Grenzen, und es schien gar keinen Unterschied zu machen, ob man in Hannover, München oder Hamburg aufgewachsen war oder in Leipzig, Dresden oder Magdeburg.
Und heute? Vor allem in Ostdeutschland ist die Euphorie des Aufbruchs zu Beginn der 1990er-Jahre einer großen Enttäuschung gewichen, man fühlt sich von den Politikern, vor allem von denen in Berlin, nicht wahrgenommen und schon gar nicht verstanden. Man sucht nach „Denkzetteln“ für „die da oben“ und zieht sich aus der Verantwortung für das Gemeinwohl zurück. Der Religionssoziologe Detlef Pollack, der zur Geschichte der DDR forscht, spricht davon, dass sich in Ostdeutschland eine „soziale Affektlage des Protests und der Empörung, des Gekränktseins und des Unmuts, der Erniedrigung und des Aufbegehrens herausgebildet (hat), die sich allen Versuchen von Dialog, Verständigung und Aufklärung verweigert. Man wird von der Verhärtung einer Affektlage des Ressentiments sprechen können, die oft geradezu nach einer Bestätigung ihrer Berechtigung sucht.“ ¹ Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die sind rar. Ich weiß, dass auch früher sich zum Beispiel Bayern und Sachsen nicht sonderlich mochten, aber mittlerweile haben sich die Vorurteile zwischen den „Ossis“ und den „Wessis“ vertieft. Was ist zu tun?
Um im Sinn von Victor Hugo zu argumentieren: Ich glaube, wir müssen die Schwachen und Furchtsamen davon überzeugen, dass es lohnt, sich gemeinsam für eine deutsch-deutsche Zukunft einzusetzen. Dass es lohnt, sich kennenzulernen, von Westdeutschland nach Dresden, in die Lausitz, in die Saale-Unstrut-Region etc. zu reisen und ebenso von Ostdeutschland z. B. nach Köln, München oder nach Niedersachsen. Dass es sich lohnt, mit „denen da drüben“ zu reden, gemeinsame Projekte durchzuführen, sich gegenseitig die unterschiedlichen Lebensgeschichten zu erzählen, Freundschaften zu schließen.
Für den Kulturbereich bedeutet dies z. B., dass große Wanderausstellungen nur dann von staatlichen Stiftungen und Institutionen gefördert werden sollten, wenn mindestens je eine ostdeutsche und eine westdeutsche Station dabei sind. Musikfeste oder Literaturfestivals sollten ermutigt werden, eng mit jeweils einem Partnerfestival in Ost- bzw. Westdeutschland zusammenzuarbeiten usw. usw.
Bei der Gründungsversammlung des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder am 17. September 1999, die in den Neuen Kammern in Potsdam stattfand, hielt der damalige Ministerpräsident von Brandenburg, Manfred Stolpe, der damals als Vorsitzender des Stiftungsrats der Kulturstiftung fungierte, eine bemerkenswerte Rede, in der er davon sprach, dass in der Zeit der Teilung Deutschlands gerade auch die Kulturschaffenden, also Schriftsteller, bildende Künstler, Theaterleute usw. es durch ihre Kunst verstanden hätten, das Band zwischen Ost- und Westdeutschland trotz der Grenze zwischen der DDR und der BRD fest geknüpft zu halten, und sie damit die Möglichkeit einer Wiedervereinigung befördert hätten. Könnte dies nicht auch in unserer Zeit wieder gelingen?
Aber natürlich kann die Kultur nicht alle Wunden heilen, die die geschichtlichen Veränderungen geschlagen haben. Im Grunde müssten wir alle, ob im Osten oder Westen lebend, uns bemühen, einen neuen Anfang in den Beziehungen zwischen Ost und West zu wagen. Die Kirchen könnten dabei ihre Gläubigen in die Pflicht nehmen und ihre Netzwerke nutzen, ebenso wie sich z. B. die Sportvereine Partner im jeweils anderen Landesteil suchen sollten, die zu Freunden werden könnten. Universitäten könnten Ost-West-Partnerschaften entwickeln, auch die Idee der Städtepartnerschaften könnte mit frischem „innerdeutschen“ Schwung belebt werden und so zum besseren Verständnis beider Teile Deutschlands untereinander beitragen. In diesem Zusammenhang kann man sich eine Börse der guten Ideen vorstellen, die regelmäßig besonders gelungene Projekte vorstellen könnte. Der Verein der Freunde und Förderer der Vereinigten Domstifter ist für mich ein solches positives Beispiel für das Zusammenwachsen von west- und ostdeutschen Menschen: Die Mitglieder lernten sich bei gemeinsamen Reisen und Tagungen kennen und gewannen Respekt vor ihren unterschiedlichen Lebensleistungen.
Die von Victor Hugo beschworenen „Tapferen“ sollten jede der skizzierten Chancen nutzen – zum Wohle aller Furchtsamen und Schwachen, damit spätestens in den nächsten 25 Jahren die 1989 begonnene Wiedervereinigung wirklich geglückt sein wird und Ost- und Westdeutschland einer gemeinsamen, erfolgreichen Zukunft entgegensehen können.
1 Detlef Pollack, „Warum wählen im Osten so viele die AfD?“, in: FAZ, 22.8.2024, S. 11.
Karin von Welck studierte in Hamburg und Köln Germanistik, Politische Wissenschaften, Linguistik und Ethnologie. Sie schloss ihr Studium mit einer Dissertation über die Pueblo-Indianer ab. Es folgten Museumsstationen in Köln und Mannheim sowie Lehraufträge an den dortigen Universitäten. 1994 wurde sie zur Honorarprofessorin der Universität Mannheim ernannt. 1998 übernahm sie das Amt der Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder. Von März 2004 bis August 2010 war sie Senatorin für Kultur der Freien und Hansestadt Hamburg, ab Mai 2008 auch für Sport und Medien. 2003 wurde sie Präsidiumsmitglied im Deutschen Evangelischen Kirchentag und war 2009 Präsidentin des Kirchentags in Bremen. Seit 2012 ist sie Domherrin der Vereinigten Domstifter zu Merseburg und Naumburg und des Kollegiatstifts Zeitz und war von 2018 bis 2024 Dechantin des Domkapitels.