Virtuelle Klänge: Die Revolution in der klassischen Musik
Frank Druschel
Frank Druschel ist ein Kulturmanager mit umfassender Erfahrung in der Leitung von Orchestern und Kulturorganisationen. Seit 2012 ist er Geschäftsführer des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Zuvor leitete er das Württembergische Kammerorchester Heilbronn (2006–2012) und war von 1998 bis 2006 Direktor des RIAS Kammerchors Berlin. Druschel hat einen Abschluss in Kulturpädagogik von der Universität Hildesheim. Seine Karriere begann in den 1990er-Jahren in verschiedenen organisatorischen Rollen in der Kulturszene Deutschlands.
Vor mehr als 25 Jahren stellte ich mir zum ersten Mal die Frage, wohin sich die klassische Musik entwickeln könnte. Das traditionelle Format kennen wir alle: ein Orchester auf der Bühne, das Publikum im Saal. Unsere Konzertsäle sind auf diese Art der frontalen Darbietung ausgelegt, und das aus gutem Grund – es hat sich über Jahrhunderte bewährt. In Wien sind unsere Konzerte beispielsweise zu 95 Prozent ausverkauft. Aber sollten wir nicht trotzdem weiterdenken? Stillstand bedeutet Rückschritt, und wer kann schon sagen, ob die kommende Generation die großen Konzertsäle mit 2000 Plätzen noch füllen möchte?
Zurück zu meinen Überlegungen vor 25 Jahren: Damals stieß ich auf das Computerspiel Second Life. Es war revolutionär. Man konnte Häuser bauen, auf fantastischen Inseln umherwandern, Land erwerben, Handel treiben, Freunde treffen, seinen Avatar gestalten – und das alles in einem virtuellen Raum, damals noch ohne VR-Brille. Gemeinsam mit Freunden stellte ich mir die Frage, ob ein Orchester live in Second Life auftreten könnte. Technisch war das damals nicht machbar oder wir waren einfach zu eingeschränkt in unseren Möglichkeiten. Heute bietet das Metaverse genau diese Möglichkeit. Obwohl das Thema derzeit medial ein wenig in den Hintergrund gerückt ist bedeutet das nicht, dass dort nichts passiert.
Diesen Sommer hatte ich das große Vergnügen, Prof. Dr.-Ing. Holger Hanselka, den Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft, zu treffen. Ich fragte ihn nach den neuesten Trends in der Digitalisierung und virtuellen Entwicklung. Er erklärte mir, dass die Industrie enorme Summen in das Projekt „Industrial Metaverse“ investiert. Wenn die Industrie investiert, wird etwas passieren. Das Metaverse ist nicht tot.
Aber ist es mittlerweile möglich, ein Live-Orchester in einer virtuellen Umgebung abzubilden? Wir haben erste Feldversuche mit technischem Equipment unternommen, das bereits für Endverbraucher auf dem Markt verfügbar ist. Dieses konnte unsere Erwartungen allerdings ganz und gar nicht erfüllen, der erste Versuch war im Ergebnis enttäuschend. Doch die Entwicklung schreitet schnell voran: Im zweiten Versuch konnten wir mit innovativer High-End-Technologie im Beta-Status bereits sechs Musikerinnen und Musiker simultan und mit der notwendigen Präzision abbilden. Ein vielversprechender Anfang. Demnächst planen wir weitere Versuche und wollen klassische Stücke im Format „Augmented Audio“ aufnehmen. Man kann sich dann beispielsweise auf einer Wiese, ausgerüstet lediglich mit einem Smartphone und Kopfhörern, durch das Orchester bewegen und etwa die Flötengruppe aufsuchen, wobei sich der Klang je nach Position verändert. Eine völlig neue Klangerfahrung, die das Erlebnis Orchester auf eine andere Stufe hebt als im Konzertsaal.
Zusätzlich haben wir ein Workshop-Konzept entwickelt, das den Einsatz dieser Technologie in Schulen vorsieht. Die Idee: Holen wir die jungen Menschen dort ab, wo sie sind – bei Gaming, Handyspielen und Musikhören –, und das mit Technologien, die sie ohnehin bereits nutzen. In naher Zukunft wird auch das Metaverse dazugehören. Von allein werden die Jugendlichen wohl kaum den Weg in unsere Konzerte finden. Aber ich bin überzeugt, dass wir sie mit einem neuen, spannenden Erlebnis, das Klänge und Gaming verbindet, erreichen können. So können sie klassische Musik zunächst niederschwellig kennenlernen, und wir begeistern sie im nächsten Schritt dann für ein Live-Konzert. Ich bin der Ansicht, dass wir so ein neues, jüngeres Publikum für das begeistern können, was uns am Herzen liegt und ihnen so viel zu bieten hat.
Bei all den Versuchen und Experimenten mit neuen technischen Formaten bin ich jedoch fest davon überzeugt, dass ein Konzertbesuch – gerade in einer zunehmend fragmentierten Gesellschaft – ein Rückzugsort für kontemplative Erfahrungen bleiben wird. Die Bedeutung solcher Erlebnisse könnte für den einzelnen Menschen sogar erheblich an Bedeutung gewinnen. Unsere Konzerte bieten eine kleine Auszeit von der Hektik des Alltags und der Widersprüchlichkeit der Welt, einen Ort der Verlässlichkeit und Tradition. Wer in den Konzertsaal kommt, kennt das Gefühl der Entschleunigung, das Zur-Ruhe-Kommen und die innere Sammlung über zwei Stunden hinweg. Das ist wertvoll und wird in Zukunft noch wertvoller werden. Wir müssen es nur schaffen, jüngeren Menschen ein einzigartiges Erlebnis mit klassischer Musik zu bieten, das sie emotional berührt und Lust auf mehr macht.
Also, auf geht’s. Es bleibt spannend …
Frank Druschel ist ein Kulturmanager mit umfassender Erfahrung in der Leitung von Orchestern und Kulturorganisationen. Seit 2012 ist er Geschäftsführer des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich. Zuvor leitete er das Württembergische Kammerorchester Heilbronn (2006–2012) und war von 1998 bis 2006 Direktor des RIAS Kammerchors Berlin. Druschel hat einen Abschluss in Kulturpädagogik von der Universität Hildesheim. Seine Karriere begann in den 1990er-Jahren in verschiedenen organisatorischen Rollen in der Kulturszene Deutschlands.