Von Beteiligungsprozessen in der kommunalen Kulturarbeit

Ein Briefwechsel zwischen Marc Gegenfurtner, Leiter des Kulturamtes der Landeshauptstadt Stuttgart und Johanna Hager, Beraterin bei METRUM.


Johanna Hager: Lieber Marc Gegenfurtner, Sie sind Leiter des Kulturamts der Stadt Stuttgart. Können Sie mir beschreiben, inwiefern Sie die Frage beschäftigt, wie die Teilhabe möglichst vieler Menschen aus der Breite der Gesellschaft an Kunst und Kultur gestärkt werden kann?

Und welche Verantwortung sehen Sie in diesem Zusammenhang bei einer Stadt wie Stuttgart, die den Anspruch hat, eine vielfältige Kulturarbeit für ihre mehr als 600.000 Einwohner:innen zu leisten?

Marc Gegenfurtner: Kultur im öffentlichen Dienst einer Großstadt zu gestalten, bedeutet immer auch eine vielfältige Stadtgesellschaft mitzugestalten. Dazu zählt zentral, sich über die Rollen aller Agierenden, sowohl der Produzierenden als auch der Rezipierenden, gerade auch perspektivisch, Gedanken zu machen.

Durch den letztlich immer noch gültigen, wenn auch in 50 Jahren deutlich weiterentwickelten Anspruch einer „Kultur für alle“ verpflichten wir uns dazu, kulturelle Angebote breit und vielfältig zu entwickeln und das kulturelle Erbe, das derzeit in manchen Bereichen zunehmend in Relevanzbegründungsnot gerät, für alle Menschen verstehbar zu machen. Solche Arbeit am Relevanzbeweis erfordert aber auch ein Kompetenzspektrum, das nicht in allen kulturellen Angeboten gleichermaßen stecken kann, weil das Anforderungsprofil an kulturelle Angebote deutlich komplexer geworden ist.

Und Relevanz ergibt sich meines Erachtens nicht nur aus blanken Besuchs- oder Nutzungszahlen. Neben der quantitativen Messung ist die qualitative ebenso bedeutsam, also die Frage, für wen genau erarbeiten wir was und wo und wozu?

In einer Stadt wie Stuttgart, in der die Migration seit beinahe 50 Jahren Wachstumsmotor und Fundament bürgerlichen Zusammenhalts zugleich ist und bei fast 50 Prozent liegt, legitimiert sich dieser Anspruch mit einem anderen Fokus als beispielsweise in einigen Gegenden des ländlichen Raumes.


Johanna Hager: Um die Bedürfnisse unterschiedlicher Zielgruppen zu erfassen und diese in die Entwicklung von Kulturangeboten miteinzubeziehen, werden immer häufiger partizipative Formate genutzt. Wie berücksichtigen Sie im Kulturamt der Stadt Stuttgart konkret die von Ihnen angesprochenen qualitativen Aspekte bei der Konzeption von Kulturangeboten?

Marc Gegenfurtner: Kultur wird ja bekanntermaßen und in erster Linie von Menschen für Menschen gemacht, bestenfalls auch in der Verwaltung. In der Überzahl sind dabei Formate, die von wenigen für – zumindest dem Anspruch nach – viele, gerne mit dem Optimum „für alle“, kreiert werden. Dem Anspruch genügen wir meiner Erfahrung nach aber am besten, wenn wir den Kreis der Ideen- und Impulsgebenden vergrößern.

Konkret heißt das in unserer Arbeit, dass wir bereits mit der Konzeption von neuen Organisationseinheiten wie der Koordinierungsstelle Erinnerungskultur, Institutionen wie der Villa Berg, Formaten wie der Kunst im öffentlichen Raum oder der übergreifenden Arbeit für mehr Teilhabegerechtigkeit von Anfang an ins Gespräch gehen mit der Stadtgesellschaft, ihren vielfältigen Perspektiven, unterschiedlichen Anliegen und differenzierten Schichtungen von Alter über Herkunft bis besonderen Befähigungen, um bedarfsgerechte und zukunftsorientierte Kulturangebote machen zu können, die sowohl kulturpolitisch gedacht als auch nachfrageorientiert sind. Dabei ist die Frage nach Qualität umso spannungsvoller, je multiperspektivischer die Gesprächspartner:innen sind. Das ist auch deshalb entscheidend, weil die Beantwortung solcher Fragen keine einfachen, mitunter auch keine final konsensualen Lösungen bringt, ein gesteigertes Maß an Erwartungsmanagement erfordert und zugleich auch vermitteln muss, dass diese Arbeit nicht auf politische Quick Wins ausgerichtet, sondern langfristig gedacht ist, mithin also viel Geduld und Ausdauer erfordert. Von den erforderlichen Ressourcen noch gar nicht gesprochen.


Johanna Hager: Aus Ihrer Antwort lassen sich einige Faktoren für eine erfolgreiche Umsetzung von Partizipationsprozessen herauslesen: die breite Einbindung möglichst vieler Beteiligter, Geduld und genügend Zeit, die Bereitschaft zur Aushandlung unterschiedlicher Erwartungen und eine gewisse Ergebnisoffenheit. 

Wo sehen Sie Herausforderungen in der Umsetzung von Partizipationsprozessen? Erleben Sie auch Situationen, in denen partizipative Ansätze an Ihre Grenzen stoßen? Und wie sind Sie mit diesen Herausforderungen oder Grenzen umgegangen? 

Marc Gegenfurtner: Die Herausforderungen liegen genau an den Grenzen der beschriebenen Umsetzungsoptionen. Und diese Grenzen sind im Realitätsabgleich schnell erreicht: Denn Multiperspektivität irritiert beispielsweise institutionell bislang nie in Frage gestellte Hegemonien ebenso wie auch langjährig erarbeitete auf der zivilgesellschaftlichen Seite.

Zentral ist auch die Ressourcenfrage. Beteiligungsprozesse benötigen Arbeitskraft auf allen Ebenen, was letztlich eine finanzielle oder eine soziale Ebene (oder beides) eröffnet, da einerseits nicht alle Menschen dieselben Beteiligungsvoraussetzungen haben und andererseits diejenigen, die Beteiligung anbieten, entweder zusätzliches Personal benötigen (was der Add-on-Mentalität der letzten Jahrzehnte entspricht) oder eine neue Gewichtung der Aufgaben vornehmen müssen (was grundsätzlich nachhaltiger und zukunftsorientierter wäre).

Und dann bleiben zuletzt Uneinigkeit und partielle Unzufriedenheit, die es auszuhalten und stetig zu moderieren gilt, weil auch anfängliche Ergebnisoffenheit zu Ergebnissen führt. Und genau das macht in den oben genannten Beispielen mittlerweile einen großen Teil der Arbeit auch bei uns aus: Komplexitäten nach allen Seiten erklären, moderieren, verhandeln – immer wieder von vorne. Also letztlich permanente Kommunikation jenseits von reiner Öffentlichkeitsarbeit.

Was wir uns trotz mittlerweile jahrzehntelanger Erfahrung stets aufs Neue bewusst machen müssen, ist, sich im Vorfeld über die Ziele und die Grenzen im Klaren zu sein und das auch im Rahmen der Möglichkeiten zu kommunizieren. Der Erwartungshaltung auf vollständige Ergebnisoffenheit und komplett basisdemokratische Mitbestimmung können weder Politik noch Verwaltung voll entsprechen. Aber Partizipation kann die Vorstufe für dringend erforderliche neue Formen der Kollaboration sein. Und dort greifen dann noch ganz andere Verhandlungsparameter.

Wichtig im Beteiligungsalltag ist: „Partizipation muss ohne Romantik betrachtet werden“ (Markus Miessen, 2012: Albtraum Partizipation. Berlin: Merve Verlag). Aber das gilt ohnehin für viele Formen der Kulturarbeit.


Marc Gegenfurtner ist seit 2019 Leiter des Kulturamtes der Landeshauptstadt Stuttgart. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie folgten berufliche Stationen u. a. als Betriebsdirektor am Wilhelma Theater, Geschäftsführender Dramaturg am Schauspielhaus Bochum, Büroleiter des Kulturreferenten sowie Abteilungsleiter (für Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Film, Literatur, Musik, Stadtgeschichte und Wissenschaft) im Kulturreferat der Landeshauptstadt München.