In diesen Wochen vor 12 Jahren übernahm ich für die Münchner Rück die Leitung ihrer Versicherungsgesellschaften in Schweden und Dänemark. Was folgten, waren an beruflichen Erfahrungen überaus reiche Jahre. Die Umgänge der Menschen dort in den Unternehmen und das, was wir "Führungsvorgänge" nennen, nahm ich spürbar anders wahr als hier in Deutschland. Spontan in den Sinn kommen: reduzierte soziale Hierarchien; kollektiv angereicherte Managementprozesse; weitgehende Gleichberechtigung von Mann und Frau auf allen Organisationsebenen; informatorische Mitbestimmung von Arbeitnehmer:innen; eine unaufgeregte Work-Life Balance; und, für mich als in Deutschland sozialisierten Manager ganz unerwartet, eine bemerkenswerte Mobilität von Senior-Manager:innen mit Blick auf Industrien und Branchen. Überhaupt keine Seltenheit ist es, wenn ein Versicherungsmanager die Leitung einer Fluggesellschaft übernimmt oder eine bekannte Managerin eines Pharmariesen in die Spitze eines globalen Logistikunternehmens wechselt. Insbesondere der letzten Beobachtung nachzuspüren, beschäftigte und motivierte mich einige Jahre später auch ganz persönlich, diesen Schritt zu gehen.
Aber worin liegen die Gründe dafür, dass wir in Deutschland genau das Gegenteil feststellen: Ein unverändert, tief verankertes Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Branche, berufliche Wechsel innerhalb derselben gelten als akzeptiert; aber darüber hinaus? Schuster bleib bei Deinen Leisten! Dabei liegen wichtige Vorteile wie in Skandinavien gelebt auf der Hand:
Zum einen geht es um Charisma, um Leadership. Darum Menschen und Teams mit Intuition und großer Glaubwürdigkeit auf eine Vision zu vereinen, zu begeistern, zu entflammen. Es geht um das Spüren, was man an einer Organisation hat und was es braucht, diese mit neuen Herausforderungen wachsen zu lassen. Es geht um die Wahrnehmung der Menschen, um ihre Energien, ihr Können. Und darum, wie wir in einem weiteren Beitrag dieser Ausgabe lesen können, ihre Passionen sich entfalten zu lassen. Diese Fähigkeiten sind ausdrücklich nicht an eine Branche gebunden, sondern hängen allein am jeweiligen Menschen als gereifte Führungspersönlichkeit!
Zum anderen geht es um greifbare Erfahrung in der Führung als Takt- und Richtungsgeber: Um die Fähigkeit, Lösungsansätze, Strukturmodelle, Ablaufmuster, Erfahrungswerte, Impulse aus der einen Welt mitzunehmen und in einer neuen Welt zu adaptieren, fruchtbar zu machen, neue Blickachsen zu legen. Darum Bekanntes mit anderen Ideen anzureichern und damit Produkte, Prozesse, Vorhaben, Organisationen vielschichtiger, relevanter und schlicht noch erfolgreicher zu machen.
Aus der Wirtschaft kommend nehme ich Kultur als einen Bereich mit einem essenziell und überzeugend aufgesetzten, zutiefst relevanten Geschäftsmodell wahr: Erfolg wird hier über Purpose definiert. Und tatsächlich ringen heute zahlreiche Unternehmen genau mit dieser Frage. Zu Zeiten von Jack Welsh, dem Großmeister des Shareholder-Value, lautete die Frage aller Fragen für die Industrie: Für wen arbeiten wir? Heute ist diese Frage weit weg. Unter dem Eindruck der epochalen Herausforderungen von Klima- und sozialem Wandel und der Erkenntnis, dass gerade Unternehmen durch ihren Leverage mit Abstand die Schlüsselrolle für den Erfolg einer für die Menschheit zwingend gebotenen Neuorientierung spielen, stellen sich Unternehmen endlich eine andere Frage: Warum tun wir das, was wir tun? Kulturunternehmen haben schon seit jeher diese Frage in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt. Um sie wird dort nicht gerungen, mit ihr wird gearbeitet!
Andererseits lässt mich der gewonnene Abstand kristallklar erkennen, was nachhaltig erfolgreiche Unternehmen und Unternehmer:innen ausmacht: eine beeindruckend kraftvolle Fähigkeit zur Veränderungsbereitschaft, allerhöchste Resilienz! Und zwar aus sich selbst heraus, gleichsam einem tief verborgenen Kraftfeld, einem genetischen Code folgend. Erfolgreiche Unternehmen erfinden sich im Innenleben, in ihren Produkten und Prozessen, in ihren Strukturen, auch mit ihren Menschen, die dort tätig sind, regelmäßig neu, stellen sich legitim selbst in Frage. Sie warten nicht darauf, dass die Konkurrenz, der Verwaltungsrat oder die Politik sie dazu zwingt. Change ist eindeutig und immer Chance, nie Bedrohung!
Dieser, naturgemäß für einen Meinungsimpuls typologisierte Blick in die Herzkammern jeweils von Kultur- und Industrieunternehmen offenbart wie einerseits analytisch nach vorne denkend und andererseits lösungsbezogen greifbar es tatsächlich ist, "the best of two worlds" in den Händen zu halten. Welche kraftvollen Weiterentwicklungen mit der Kombination greifbar, wie fruchtbar und mitreißend Seiten- und Perspektivenwechsel wirksam werden können.
Die, die es tun, halten einen Schatz in ihren Händen!
Punktgenau am Übergang zum zweiten Quartal des 21. Jahrhunderts sehen sich Kulturinstitutionen enormen Herausforderungen gegenüber. Strukturwandel ist eindeutig nicht mehr das Privileg der Wirtschaft. Im Gegenteil: Kulturinstitutionen sind mittendrin. Man muss kein Hellseher sein, um vorherzusehen, dass sich Profilanforderungen an Top-Positionen in der Kultur zunehmend an der Fähigkeit, diesen Strukturwandel erfolgreich zu managen, orientieren werden.
Neben der Ausbildung von Kulturmanager:innen, die allerdings eine halbe berufliche Lebenszeit brauchen, um dieses reife Können zu erreichen, sollte daher auf nahe Sicht eine wachsende Offenheit von Kulturinstitutionen in Besetzungsverfahren Einzug halten. Die Offenheit, branchenfremde aber der Kultur zutiefst aufgeschlossene und zugleich strukturwandelerprobte Führungspersonen aus Wirtschaft, Sport oder Bildungsmanagement aktiv zur Übernahme von Top-Führungspositionen aufzufordern. Dies insbesondere da, wo es um Doppelspitzen geht, also um die wirksam werdende, idealtypisch teamfähige personale Verknüpfung von Kunst und Management.
Daher: Wir sollten in jeder Hinsicht und auf allen Seiten konsequent freier werden im Umgang mit solchen Seitenwechseln. Kommt - wechselt die Perspektive!
Dr. Johannes von Hülsen arbeitete 20 Jahre in der internationalen Finanzdienstleistungsbranche, davon über 10 Jahre im Vorstandsbereich, bevor er 2020 in die Kulturberatung zu METRUM wechselte.