Hierarchien: Welche braucht es wirklich?

Ein Impuls von Dr. Benjamin Andrae (Partner und Geschäftsführer)

Alle Arten von Diskriminierung und Ungerechtigkeit sind ein moralisches Übel, und es ist unser aller Pflicht, sie zu bekämpfen. Auch wenn es in der praktischen Umsetzung noch ein weiter Weg ist, setzt sich die Erkenntnis dieser offensichtlichen Wahrheit mehr und mehr durch und hat Auswirkungen auf das Arbeitsleben in Kulturinstitutionen. Der Leitstern aller dieser positiven Entwicklungen ist die Tatsache, dass alle Menschen den gleichen Wert und die gleiche Würde besitzen und daher auch die gleichen Rechte haben sollten. Aber wenn das so ist, ist es dann nicht falsch, dass eine Person Chef:in ist und eine andere Befehlsempfänger:in? Gehören solche Hierarchien genauso abgeschafft wie Sexismus, Rassismus etc.? Darum soll es heute gehen.

"Flache" Hierarchie sind nach unserer Einschätzung keine Antwort. Denn erstens führt das dazu, dass eine Führungsperson zu viele Mitarbeitende führen muss, was nur Überlastung bei der Führungsperson und einen Mangel an klaren Vorgaben bei den Mitarbeitenden verursacht. Und zweitens gibt es in einer flachen Hierarchie ja weiterhin Chef:innen, nur weniger.

Wenn das ganze Konzept der "Führung" suspekt ist: vielleicht sind völlig neue, selbstorganisierte Organisationsstruktur der Ausweg? Obwohl es viele interessante Ansätze in diesem Bereich gibt, haben wir noch kaum eine wirklich funktionale solche Organisation gesehen, in der nicht im Krisenfall doch die Verantwortungen klar der Leitungsebene zugeordnet sind. Außerdem besteht in solchen Modellen die Gefahr, dass die Hierarchien, die es trotzdem noch gibt, in gewissem Sinne "untertauchen", und ihre problematischen Aspekte schwieriger zu diskutieren sind, weil es offiziell keine Hierarchien mehr geben darf. Eine andere Lösung für dieses Problem, die wir für sehr vielversprechend halten, ist ganz einfach: Man unterscheidet soziale und organisatorische Hierarchien. Erstere sind diskriminierend und gehören abgeschafft. Zweitere sind ganz normal und sehr hilfreich für das gute Funktionieren einer Organisation.

Was bedeutet das?

Wenn es keine sozialen Hierarchien gibt, dann gibt es kein Privileg der Chef:innen mehr: Keine größeren Büros, keine besseren Computer, keine Businessclass-Flüge während die Mitarbeitenden Economy fliegen - außer diese Dinge sind im strengen Sinne nötig für das Funktionieren der Arbeit, z. B. wenn manche Personen ein Handy brauchen, weil sie viel unterwegs sind, und andere nicht. Sicherlich gibt es Grauzonen: Braucht die Museumsdirektion nicht aus Repräsentationsgründen ein besonders schönes Büro, um wichtige externe Gäste zu empfangen? Über alle diese Dinge kann man diskutieren, solange die Haltung den Mitarbeitenden gegenüber ganz klar ist: Als Chef:in bin ich nicht besser oder höherwertiger als ihr, sondern wir arbeiten alle als Menschen auf Augenhöhe zusammen, damit der Laden läuft. Das bedeutet auch, dass alle gemeinsam gelernte Reflexe abschaffen: Man begrüßt nicht die Vorgesetzten zuerst und man orientiert sich nicht am Geschmack der Chef:in bei der Entscheidung, wo man zum Mittagessen hingeht. Jede Person macht mal Kaffee für sich selbst und für Kolleg:innen und räumt ihre eigene Tasse in die Spülmaschine. Bei einer Diskussion im Büro über Politik sagt jede Person ihre Meinung und argumentiert, ohne darauf achten zu müssen, die Meinung der Chef:in nicht zu verletzen.

Wenn eine Organisation es schafft, auf diese Weise soziale Hierarchien komplett abzuschaffen, dann kann sie nützliche organisatorische Hierarchien leichter behalten, ohne diskriminierend zu werden. Jede Person hat eine Aufgabe, damit alles funktioniert: Eine Person säubert die Räume, eine Person recherchiert Daten, eine Person erarbeitet Vorschläge, eine Person entscheidet nach kontroversen Diskussionen, was nun gemacht wird und trägt dann auch die Verantwortung für das Ganze. Aber niemand ist jemand anderem dadurch sozial überlegen.

Die Abschaffung von sozialen Hierarchien kann sogar helfen, dass organisatorische Hierarchien besser funktionieren: Viele Aspekte erfolgreicher Führung fallen leichter, wenn es für mich als Führungsperson ganz normal ist, dass "meine" Mitarbeitenden mir ganz ungeschützt ihre Meinung sagen, dass ich mit ihnen auf Basis einer fundamentalen Gleichrangigkeit darüber diskutieren kann, was das Beste für die Organisation wäre, und dass bei allen klar ist, dass es meine Aufgabe ist, danach die Entscheidung zu treffen.