Hierarchie, Freiheit, Organisation - ein Briefwechsel mit Roland Nachtigäller

Über Hierarchien und deren Notwendigkeit haben sich Roland Nachtigäller, Geschäftsführer der Stiftung Insel Hombroich, und Theresa Schnell, Senior Beraterin bei METRUM, in einem Briefwechsel ausgetauscht: Was bedeutet es die Geschäfte einer Institution zu führen, deren Wesenskerne das Spannungsfeld von individueller Freiheit und Gemeinschaft sowie der ergebnisoffene, künstlerische Prozess sind?

Theresa Schnell: Lieber Roland Nachtigäller, Sie sind seit ziemlich genau zwei Jahren Geschäftsführer der Stiftung Insel Hombroich. Können Sie mir Ihre Rolle als Geschäftsführer einer Organisation beschreiben, zu deren Wesenskernen Autonomie und Freiheit gehören? Was bedeutet "Führung" in einem solchen Gefüge?

Roland Nachtigäller: Meine Rolle als Geschäftsführer der Stiftung Insel Hombroich ist sicherlich eine besondere, so wie dies hier generell ein sehr besonderer Ort ist. Je nach Perspektive würde man meine Rolle wahrscheinlich ganz unterschiedlich beschreiben: Da gibt es den Vorstand, der einen inhaltlich und finanziell Verantwortlichen, einen Initiator, Ermöglicher und Netzwerker erwartet. Da gibt es die in Hombroich Tätigen, zu denen auch die hier arbeitenden und zum Teil lebenden Künstler:innen gehören. Diese Gruppe wünscht sich vor allem einen Moderator, der Ideen aufgreift und ihre Umsetzung begleitet, gute Rahmenbedingungen schafft sowie mögliche Konflikte entschärft und eher im Hintergrund agiert. Oder es gibt mein eigenes Verständnis der Rolle, als jemand, der immer auch die Sichtbarkeit der Stiftung als ganze im Blick hat und versucht, hier ein multidisziplinäres künstlerisches Programm zu profilieren, welches das Publikum anzieht und dazu beiträgt, Hombroich zu einem lebendigen Kosmos mit echten Zukunftsperspektiven zu machen. "Führung" bedeutet in diesem Feld unterschiedlicher Interessen vor allem zu reden, zuzuhören, Maßstäbe herauszuarbeiten, Leitlinien vorzuschlagen und Binnenstrukturen zu entwickeln, die belastbar, verlässlich, partizipativ und transparent sind.

Theresa Schnell: Das scheinen mir viele und vielleicht sogar widersprüchliche Anforderungen zu sein. Wie kommen Sie in dieser Gemengelage zu Entscheidungen - ganz besonders dann, wenn es konfligierende Interessen oder Druck von außen gibt? Braucht es dann die formal geltenden Hierarchien und wenn ja, wie werden sie genutzt?

Roland Nachtigäller: Genau diese Frage war eine Triebfeder für den nun abgeschlossenen Strategieprozess. Es ging uns darum in den Blick zu nehmen, wo möglichst demokratische Strukturen eingezogen oder Akteur:innen aktiv in die Pflicht genommen werden können, welche Beratungsgremien wir aufbauen und welche Erarbeitungsprozesse auch ganz übergeben werden können. Und es ging um die Frage, was ich aufgrund meiner Verantwortung und meines Auftrages im Zweifel auch allein entscheiden muss. Wir sind so zu einem vielgestaltigen System aus Arbeitsgruppen, Beiräten, Entscheidungsgremien und Informationsforen gelangt. Darin sollen möglichst viele Menschen eine aktive Rolle spielen und die großen Themenfelder in Literatur, bildender Kunst, Musik, Natur, Wissenschaft und Öffentlichkeit mitgestalten. Ob dieses System am Ende ein effektives und erfolgreiches Handeln ermöglicht und sich zugleich alle, die sich das wünschen, gesehen und einbezogen fühlen, ist nun eine der aufregendsten Fragen. Auch hier sehe ich es als meine Aufgabe an, aus verschiedenen Aktivitäten ein Gesamtbild zu formen, neue Impulse zu setzen und Perspektiven für die Zukunft zu fokussieren.

Theresa Schnell: Das deckt sich mit meiner Erfahrung während unserer Zusammenarbeit: Im Strategieprozess haben wir als extern Unterstützende versucht, transparente, partizipative und verlässliche Arbeits- und Entscheidungsstrukturen schon im Projektdesign anzulegen und während des Prozesses zu erproben. Die letzte Frage möchte ich nutzen, um etwas allgemeiner zu werden. Im Leitartikel dieses ersten METRUM-Magazins stellt mein Kollege Benjamin Andrae die These auf, dass eine "hierarchiefreie" Organisation weder möglich noch erstrebenswert ist. Die Annahme dahinter: Selbst, wenn alle formalisierten Hierarchien (Weisungsbefugnisse, Verortung der Entscheidungskompetenzen bei den Erfolgsverantwortliche, usw.) abgeschafft würden, blieben informelle Machtverhältnisse bestehen. Sie sind dann nur weniger sichtbar und schwerer zu hinterfragen. Was meinen Sie: Sind hierarchiefreie Organisationen im Kulturbetrieb möglich? Und wären Sie erstrebenswert?

Roland Nachtigäller: Das ist eine komplexe Frage, auf die es keine eindeutige Antwort gibt. Allein schon der Kontext "Kulturbetrieb" ist so vielgestaltig, dass ich keine allgemeine Diagnose stellen kann. Ich will trotzdem grundsätzlich beginnen: Eine hierarchiefreie und damit auch eine gewaltfreie Zusammenarbeit sollte es immer als Utopie geben - also als erstrebenswertes, wahrscheinlich jedoch nie ganz erreichbares Ziel. Doch schon die Übertragung dieses Ideals auf das Konstrukt "Organisation" ist ein inhärenter Widerspruch: Ohne jegliche Hierarchie ist diese dann nämlich keine Organisation mehr. Sie müsste ohne Wortführende, ohne Druck und allein durch emphatischen Austausch alle Beteiligten zu stets einmütigem Handeln bringen. Für ein informelles Künstler:innen-Kollektiv kann ich mir das vielleicht sogar vorstellen. Schauen wir aber auf Organisationen, so kann diese Utopie vor allem als Leitbild hilfreich sein: Wo braucht es denn zwingend eine Hierarchisierung von Entscheidungsstrukturen? Muss stets alles effizient sein oder stärken gerade auch nicht optimierte Prozesse der Meinungsbildung den organisationalen Zusammenhalt? Wie können Hierarchien so flach wie möglich gehalten, Konsensbildungen auf breiter Ebene erzeugt, Entscheidungen transparent und mit ausreichend Rücksprachen getroffen werden? Als Menschen tragen wir meiner Erfahrung nach oft beides in uns: Wir wollen mitgestalten, gehört, gesehen und involviert werden, wir wollen aber auch Visionen folgen und klare Ansagen für ein gemeinsames Handeln bekommen. Wenn wir uns nicht gelegentlich auf künstlerische, wissenschaftliche oder große politische Ideen einlassen würden, weil wir an die Person und ihre imaginative Kraft glauben, wären viele grandiose Entwicklungen unserer Gesellschaften nicht denkbar gewesen. Und zugleich kann dieses Verhalten ebenso dramatisch in den Untergang führen. Organisationsentwicklung heißt für mich, diese Gegensätzlichkeiten zusammen zu denken, keine Generalrezepte zu verwenden, sondern auf Details und Individualitäten zu schauen, zu moderieren, die künstlerische Freiheit zu verteidigen und an das Unmögliche zu glauben.

 

Roland Nachtigäller leitet seit 2022 die Stiftung Insel Hombroich zwischen Grevenbroich und Neuss. Zuvor war er dreizehn Jahre Direktor und Mitgeschäftsführer des Museums Marta Herford, leitete die Städtische Galerie Nordhorn und war Teil des Leitungsteams der documenta IX. Die Stiftung Insel Hombroich ist eine Besonderheit in der deutschen Kulturlandschaft: Der auf eine mäzenatische Initiative zurückgehende und heute durch die Stadt Neuss, den Rhein-Kreis Neuss und das Land Nordrhein-Westfalen geförderte Ort ist sowohl Museum, Kunsthalle, Landschaftsgarten, Skulpturenpark und Veranstaltungsort als auch Wohn- und Wirkungsort zeitgenössischer Künstler:innen verschiedener Disziplinen. Über die Jahre haben sich außerdem weitere Institutionen wie das Literatur- und Kunstinstitut Sammlung Volker Kahmen, die Langen Foundation oder der Kindergarten (Kinder Insel Hombroich e. V.) auf dem Areal der Stiftung angesiedelt. Weitere Informationen zur Stiftung Insel Hombroich finden Sie HIER. Wir haben die Stiftung Insel Hombroich dabei unterstützt, ein Leitbild zu verfassen und eine Strategie für die nächsten Jahre sowohl zu entwickeln als auch in die Umsetzung zu bringen.